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Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808.

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Die Schranken der jetzigen Verhältnisse lassen das ar-
me Streben nicht mehr zum Durchbruch kommen, und
die meisten selbst der glücklicheren, gehen nur mit halb-
zersprengter Chrysalide, aus welcher schon der Saum
der künftigen Fittiche hervorblickt, zu Grabe. Was
will ein solches, dem irdischen Leben so fremdartiges
Streben, was will jene Pflanze, die einen glücklicheren
Sommer bedarf, um zu blühen, in diesem ungünsti-
gen Clima! Die Natur antwortet darauf wie wir zum
geringen Theil schon vorher sahen, durch tausend That-
sachen.

Im Allgemeinen scheint sich der Geist des höheren
künftigen Daseyns, jener geistigen Welt, welche an
die jetzige angränzt, in dem meuschlichen Wesen als
Religion oder als Begeisterung, es sey der Künste oder
des Wissens auszusprechen. Dieses höchste und seelig-
ste Eigenthum des Menschen, scheint auf der Erde
nicht völlig einheimisch zu seyn. Wir sehen das tiefe
Streben nach religiöser Vollendung, und nach der Nä-
he des göttlichen Ideals, welches dem Gemüth bestän-
dig vorschwebt, meist vergeblich mit der Zeit und Außen-
welt ringen, und diese Eigenschaft unsrer Natur ge-
winnt auf Erden kaum die ersten Knospen, nur selten
einige frühe Blüthen. Dieses Sehnen aber ist es eben,
welches, wenn es uns nur einmal mit seinen warmen
Strahlen anblickte, die Banden löst, die uns an der
Erde gehalten, und von ihm durchdrungen, wird als-
bald das Gemüth von seiner eignen überirdischen Leich-

Die Schranken der jetzigen Verhaͤltniſſe laſſen das ar-
me Streben nicht mehr zum Durchbruch kommen, und
die meiſten ſelbſt der gluͤcklicheren, gehen nur mit halb-
zerſprengter Chryſalide, aus welcher ſchon der Saum
der kuͤnftigen Fittiche hervorblickt, zu Grabe. Was
will ein ſolches, dem irdiſchen Leben ſo fremdartiges
Streben, was will jene Pflanze, die einen gluͤcklicheren
Sommer bedarf, um zu bluͤhen, in dieſem unguͤnſti-
gen Clima! Die Natur antwortet darauf wie wir zum
geringen Theil ſchon vorher ſahen, durch tauſend That-
ſachen.

Im Allgemeinen ſcheint ſich der Geiſt des hoͤheren
kuͤnftigen Daſeyns, jener geiſtigen Welt, welche an
die jetzige angraͤnzt, in dem meuſchlichen Weſen als
Religion oder als Begeiſterung, es ſey der Kuͤnſte oder
des Wiſſens auszuſprechen. Dieſes hoͤchſte und ſeelig-
ſte Eigenthum des Menſchen, ſcheint auf der Erde
nicht voͤllig einheimiſch zu ſeyn. Wir ſehen das tiefe
Streben nach religioͤſer Vollendung, und nach der Naͤ-
he des goͤttlichen Ideals, welches dem Gemuͤth beſtaͤn-
dig vorſchwebt, meiſt vergeblich mit der Zeit und Außen-
welt ringen, und dieſe Eigenſchaft unſrer Natur ge-
winnt auf Erden kaum die erſten Knospen, nur ſelten
einige fruͤhe Bluͤthen. Dieſes Sehnen aber iſt es eben,
welches, wenn es uns nur einmal mit ſeinen warmen
Strahlen anblickte, die Banden loͤſt, die uns an der
Erde gehalten, und von ihm durchdrungen, wird als-
bald das Gemuͤth von ſeiner eignen uͤberirdiſchen Leich-

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[320/0334] Die Schranken der jetzigen Verhaͤltniſſe laſſen das ar- me Streben nicht mehr zum Durchbruch kommen, und die meiſten ſelbſt der gluͤcklicheren, gehen nur mit halb- zerſprengter Chryſalide, aus welcher ſchon der Saum der kuͤnftigen Fittiche hervorblickt, zu Grabe. Was will ein ſolches, dem irdiſchen Leben ſo fremdartiges Streben, was will jene Pflanze, die einen gluͤcklicheren Sommer bedarf, um zu bluͤhen, in dieſem unguͤnſti- gen Clima! Die Natur antwortet darauf wie wir zum geringen Theil ſchon vorher ſahen, durch tauſend That- ſachen. Im Allgemeinen ſcheint ſich der Geiſt des hoͤheren kuͤnftigen Daſeyns, jener geiſtigen Welt, welche an die jetzige angraͤnzt, in dem meuſchlichen Weſen als Religion oder als Begeiſterung, es ſey der Kuͤnſte oder des Wiſſens auszuſprechen. Dieſes hoͤchſte und ſeelig- ſte Eigenthum des Menſchen, ſcheint auf der Erde nicht voͤllig einheimiſch zu ſeyn. Wir ſehen das tiefe Streben nach religioͤſer Vollendung, und nach der Naͤ- he des goͤttlichen Ideals, welches dem Gemuͤth beſtaͤn- dig vorſchwebt, meiſt vergeblich mit der Zeit und Außen- welt ringen, und dieſe Eigenſchaft unſrer Natur ge- winnt auf Erden kaum die erſten Knospen, nur ſelten einige fruͤhe Bluͤthen. Dieſes Sehnen aber iſt es eben, welches, wenn es uns nur einmal mit ſeinen warmen Strahlen anblickte, die Banden loͤſt, die uns an der Erde gehalten, und von ihm durchdrungen, wird als- bald das Gemuͤth von ſeiner eignen uͤberirdiſchen Leich-

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Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/334>, abgerufen am 24.11.2024.