Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911.
<TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0015" n="15"/> <p><lb/> Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. 13</p> <p><lb/> Geschichte«, in dem sich alle Erlebnisse und Eindrücke wechselnder Zeiten<lb/> reflektieren. Die Wurzeln des älteren Sagenkreises, dessen Held Cuchulinn,<lb/> dessen Heimat Nordirland ist, reichen noch in die heidnische Vorzeit der Insel<lb/> zurück, wenn auch die abschließende Gestaltung erst nach der vollzogenen<lb/> Christianisierung erfolgt sein kann, freilich noch unter der Herrschaft des<lb/> alten, von Rom unabhängigen Christentums, dem die unduldsame und zelotische<lb/> Unterdrückung heidnischen Wesens auch in der Literatur unbekannt war. Die<lb/> Eindrücke der Vikingerzeit bilden hier nur einen fremden Einschlag in das<lb/> ursprüngliche Gewebe der Sage, den die kritische Forschung wohl zu er-<lb/> kennen, wenn auch nicht mehr glatt herauszutrennen vermag. Ganz anders<lb/> die südirische Sage, die sich um die Gestalten Finns und Ossians gruppiert.<lb/> Aus ihr glaubt Zimmers Ohr den unmittelbaren Nachhall jener verhäng-<lb/> nisvollen Zeit herauszuhören, da nordgermanische Krieger das Reich des<lb/> Schreckens und der Gewalttat in Irland aufgerichtet hatten. Und seine<lb/> kombinationsfrohe Gelehrsamkeit ruht nicht, bis sie auch das historische<lb/> Urbild des Sagenhelden in der Person eines Vikingerhäuptlings Caittil Find<lb/> aus der Mitte des 9. Jahrhunderts entdeckt hat — oder entdeckt zu haben<lb/> glaubt. Denn wie weit die Ergebnisse dieser in alle Winkel der Über-<lb/> lieferung hineinleuchtenden, allen Problemen energisch zu Leibe gehenden<lb/> Untersuchung sich vor der Kritik der Zukunft bewähren mögen, wage ich<lb/> nicht vorauszusagen. Aber auch vor diesem Forum wird, denk’ ich, ihrem<lb/> Verfasser das Verdienst ungeschmälert bleiben, große Fragen in einem<lb/> großen Sinne aufgeworfen und mit unerschrockener Konsequenz zu Ende<lb/> gedacht zu haben. Wer hat wie Zimmer die Schranken insularer Ab-<lb/> geschlossenheit, hinter denen das Leben Irlands im Mittelalter wie in der<lb/> Römerzeit sich zu verstecken schien, niedergerissen und die Bewohner der<lb/> grünen Insel mitten hinein in die Zusammenhänge der europäischen Kultur-<lb/> geschichte gestellt? Er hat sie uns aber nicht bloß als Empfangende ge-<lb/> schildert, sondern auch als Gebende. Auf allen Wegen hat er die Söhne<lb/> dieser wanderlustigsten Nation mit seiner die wohlabgesteckten Grenzen<lb/> der Einzeldisziplinen wagemutig überspringenden Forschung begleitet, die<lb/> Sendboten des irischen Christentums und der in ihm gepflegten, den Zu-<lb/> sammenhang mit dem Altertum wahrenden Kultur, die unter den Angel-<lb/> sachsen und auf dem Kontinent zu Kloster- und Schulgründern wurden<lb/> (Neues Archiv für ältere Deutsche Geschichtskunde 17, 1892, 209), die<lb/> weltflüchtigen Anachoreten, die auf den Inseln des hohen Nordens, von</p> </div> </body> </text> </TEI> [15/0015]
Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. 13
Geschichte«, in dem sich alle Erlebnisse und Eindrücke wechselnder Zeiten
reflektieren. Die Wurzeln des älteren Sagenkreises, dessen Held Cuchulinn,
dessen Heimat Nordirland ist, reichen noch in die heidnische Vorzeit der Insel
zurück, wenn auch die abschließende Gestaltung erst nach der vollzogenen
Christianisierung erfolgt sein kann, freilich noch unter der Herrschaft des
alten, von Rom unabhängigen Christentums, dem die unduldsame und zelotische
Unterdrückung heidnischen Wesens auch in der Literatur unbekannt war. Die
Eindrücke der Vikingerzeit bilden hier nur einen fremden Einschlag in das
ursprüngliche Gewebe der Sage, den die kritische Forschung wohl zu er-
kennen, wenn auch nicht mehr glatt herauszutrennen vermag. Ganz anders
die südirische Sage, die sich um die Gestalten Finns und Ossians gruppiert.
Aus ihr glaubt Zimmers Ohr den unmittelbaren Nachhall jener verhäng-
nisvollen Zeit herauszuhören, da nordgermanische Krieger das Reich des
Schreckens und der Gewalttat in Irland aufgerichtet hatten. Und seine
kombinationsfrohe Gelehrsamkeit ruht nicht, bis sie auch das historische
Urbild des Sagenhelden in der Person eines Vikingerhäuptlings Caittil Find
aus der Mitte des 9. Jahrhunderts entdeckt hat — oder entdeckt zu haben
glaubt. Denn wie weit die Ergebnisse dieser in alle Winkel der Über-
lieferung hineinleuchtenden, allen Problemen energisch zu Leibe gehenden
Untersuchung sich vor der Kritik der Zukunft bewähren mögen, wage ich
nicht vorauszusagen. Aber auch vor diesem Forum wird, denk’ ich, ihrem
Verfasser das Verdienst ungeschmälert bleiben, große Fragen in einem
großen Sinne aufgeworfen und mit unerschrockener Konsequenz zu Ende
gedacht zu haben. Wer hat wie Zimmer die Schranken insularer Ab-
geschlossenheit, hinter denen das Leben Irlands im Mittelalter wie in der
Römerzeit sich zu verstecken schien, niedergerissen und die Bewohner der
grünen Insel mitten hinein in die Zusammenhänge der europäischen Kultur-
geschichte gestellt? Er hat sie uns aber nicht bloß als Empfangende ge-
schildert, sondern auch als Gebende. Auf allen Wegen hat er die Söhne
dieser wanderlustigsten Nation mit seiner die wohlabgesteckten Grenzen
der Einzeldisziplinen wagemutig überspringenden Forschung begleitet, die
Sendboten des irischen Christentums und der in ihm gepflegten, den Zu-
sammenhang mit dem Altertum wahrenden Kultur, die unter den Angel-
sachsen und auf dem Kontinent zu Kloster- und Schulgründern wurden
(Neues Archiv für ältere Deutsche Geschichtskunde 17, 1892, 209), die
weltflüchtigen Anachoreten, die auf den Inseln des hohen Nordens, von
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