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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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ihres Sohnes darzubringen, als sie die Leichen ihrer
Brüder herbeibringen sah. Sie zerschlug sich wehklagend
die Brust, eilte in ihren Pallast zurück, legte statt der
goldenen Freudengewänder schwarze Kleidung an und er¬
füllte die Stadt mit Jammergeschrei. Aber als sie er¬
fuhr, daß der Urheber des Mordes ihr eigener Sohn
Meleager sey, da versiegten ihre Thränen, ihre Trauer
ward in Mordlust verwandelt, und sie schien sich plötzlich
auf etwas zu besinnen, das ihrem Gedächtniß längst ent¬
schwunden war. Denn als Meleager nur erst wenige
Tage zählte, da waren die Parzen bei dem Wochenbette
seiner Mutter Althäa erschienen. "Aus deinem Sohne
wird ein tapferer Held," verkündigte ihr die erste; "dein
Sohn wird ein großmüthiger Mann seyn," sprach die zweite;
"dein Sohn wird so lange leben," schloß die dritte, "als
der eben jetzt auf dem Herde glühende Brand vom Feuer
nicht verzehrt wird." Kaum hatten sich die Parzen ent¬
fernt, so nahm die Mutter das hell auflodernde Brand¬
scheit aus dem Feuer, löschte es in Wasserfluth, und,
liebevoll für das Leben ihres Sohnes besorgt, verwahrte
sie es im geheimsten ihrer Gemächer. Entflammt von
Rache dachte sie jetzt wieder an dieses Holz, und eilte in
die Kammer, wo es in einem heimlichen Verschlosse sorg¬
sam aufbewahrt lag. Sie hieß Kienholz auf Reisig le¬
gen und fachte einen lodernden Brand an. Dann ergriff
sie das hervorgesuchte Holzscheit. Aber in ihrem Herzen
bekämpfte sich Mutter und Schwester, blasse Angst und
glühender Zorn wechselten auf ihrem Angesichte, viermal
wollte sie den Ast auf die Flammen legen, viermal zog
sie die Hand zurück. Endlich siegte die Schwesterliebe
über das Muttergefühl. "Wendet eure Blicke hierher,"

ihres Sohnes darzubringen, als ſie die Leichen ihrer
Brüder herbeibringen ſah. Sie zerſchlug ſich wehklagend
die Bruſt, eilte in ihren Pallaſt zurück, legte ſtatt der
goldenen Freudengewänder ſchwarze Kleidung an und er¬
füllte die Stadt mit Jammergeſchrei. Aber als ſie er¬
fuhr, daß der Urheber des Mordes ihr eigener Sohn
Meleager ſey, da verſiegten ihre Thränen, ihre Trauer
ward in Mordluſt verwandelt, und ſie ſchien ſich plötzlich
auf etwas zu beſinnen, das ihrem Gedächtniß längſt ent¬
ſchwunden war. Denn als Meleager nur erſt wenige
Tage zählte, da waren die Parzen bei dem Wochenbette
ſeiner Mutter Althäa erſchienen. „Aus deinem Sohne
wird ein tapferer Held,“ verkündigte ihr die erſte; „dein
Sohn wird ein großmüthiger Mann ſeyn,“ ſprach die zweite;
„dein Sohn wird ſo lange leben,“ ſchloß die dritte, „als
der eben jetzt auf dem Herde glühende Brand vom Feuer
nicht verzehrt wird.“ Kaum hatten ſich die Parzen ent¬
fernt, ſo nahm die Mutter das hell auflodernde Brand¬
ſcheit aus dem Feuer, löſchte es in Waſſerfluth, und,
liebevoll für das Leben ihres Sohnes beſorgt, verwahrte
ſie es im geheimſten ihrer Gemächer. Entflammt von
Rache dachte ſie jetzt wieder an dieſes Holz, und eilte in
die Kammer, wo es in einem heimlichen Verſchloſſe ſorg¬
ſam aufbewahrt lag. Sie hieß Kienholz auf Reiſig le¬
gen und fachte einen lodernden Brand an. Dann ergriff
ſie das hervorgeſuchte Holzſcheit. Aber in ihrem Herzen
bekämpfte ſich Mutter und Schweſter, blaſſe Angſt und
glühender Zorn wechſelten auf ihrem Angeſichte, viermal
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[183/0209] ihres Sohnes darzubringen, als ſie die Leichen ihrer Brüder herbeibringen ſah. Sie zerſchlug ſich wehklagend die Bruſt, eilte in ihren Pallaſt zurück, legte ſtatt der goldenen Freudengewänder ſchwarze Kleidung an und er¬ füllte die Stadt mit Jammergeſchrei. Aber als ſie er¬ fuhr, daß der Urheber des Mordes ihr eigener Sohn Meleager ſey, da verſiegten ihre Thränen, ihre Trauer ward in Mordluſt verwandelt, und ſie ſchien ſich plötzlich auf etwas zu beſinnen, das ihrem Gedächtniß längſt ent¬ ſchwunden war. Denn als Meleager nur erſt wenige Tage zählte, da waren die Parzen bei dem Wochenbette ſeiner Mutter Althäa erſchienen. „Aus deinem Sohne wird ein tapferer Held,“ verkündigte ihr die erſte; „dein Sohn wird ein großmüthiger Mann ſeyn,“ ſprach die zweite; „dein Sohn wird ſo lange leben,“ ſchloß die dritte, „als der eben jetzt auf dem Herde glühende Brand vom Feuer nicht verzehrt wird.“ Kaum hatten ſich die Parzen ent¬ fernt, ſo nahm die Mutter das hell auflodernde Brand¬ ſcheit aus dem Feuer, löſchte es in Waſſerfluth, und, liebevoll für das Leben ihres Sohnes beſorgt, verwahrte ſie es im geheimſten ihrer Gemächer. Entflammt von Rache dachte ſie jetzt wieder an dieſes Holz, und eilte in die Kammer, wo es in einem heimlichen Verſchloſſe ſorg¬ ſam aufbewahrt lag. Sie hieß Kienholz auf Reiſig le¬ gen und fachte einen lodernden Brand an. Dann ergriff ſie das hervorgeſuchte Holzſcheit. Aber in ihrem Herzen bekämpfte ſich Mutter und Schweſter, blaſſe Angſt und glühender Zorn wechſelten auf ihrem Angeſichte, viermal wollte ſie den Aſt auf die Flammen legen, viermal zog ſie die Hand zurück. Endlich ſiegte die Schweſterliebe über das Muttergefühl. „Wendet eure Blicke hierher,“

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/209>, abgerufen am 21.11.2024.