bieterin näher, und sobald er sich unbelauscht wußte, flüsterte er ihr die Worte zu: "Traue dem Abgesandten deines Ge¬ mahls nicht, Deianira. Er verbirgt dir die Wahrheit. Aus seinem eigenen Munde habe ich mitten auf dem Marktplatze von Trachin, in vieler Zeugen Gegenwart, gehört, daß dein Gatte Herkules ganz allein um dieser Jungfrau willen die hohe Burg Oechalia's niedergeworfen hat. Es ist Jole, die Tochter des Eurytus, die du auf¬ genommen hast, von deren Liebe Herkules entbrannt war, ehe er dich kennen gelernt hat. Nicht als deine Sclavin, sondern als deine Nebenbuhlerin, als Nebenweib ist sie in dein Haus gekommen!" Ueber dieser Mittheilung brach Deianira in laute Wehklagen aus. Doch faßte sie sich bald wieder, und rief den Diener ihres Gatten, Lichas selbst, herbei. Dieser schwur anfangs beim höchsten Zeus, daß er ihr die Wahrheit gesagt habe, und ihm unbe¬ wußt sey, wer die Eltern der Jungfrau wären. Lange beharrte er bei dieser Lüge. Deianira aber beschwor ihn, des höchsten Jupiter nicht länger zu spotten. "Wäre es auch möglich, daß ich meinem Gatten seiner Untreue wegen abhold würde," sagte sie zu ihm weinend, "so bin ich nicht so unedler Gesinnung, daß ich dieser Jung¬ frau zürne, die mir nie einen Schimpf angethan hat. Nur mit Mitleiden schaue ich sie an, denn ihr hat die Schönheit all ihr Lebensglück zertrümmert, ja ihr ganzes Geburtsland in Knechtschaft gestürzt!" Als Lichas sie so menschlich reden hörte, gestand er Alles. Hierauf entließ ihn Deianira ohne Vorwurf und befahl ihm nur so lange zu warten, bis sie für die reiche Schaar von Gefangenen, die der Gemahl ihr zugesendet, und zur Verfügung ge¬ stellt hatte, diesem eine Gegengabe gerüstet hatte.
bieterin näher, und ſobald er ſich unbelauſcht wußte, flüſterte er ihr die Worte zu: „Traue dem Abgeſandten deines Ge¬ mahls nicht, Deïanira. Er verbirgt dir die Wahrheit. Aus ſeinem eigenen Munde habe ich mitten auf dem Marktplatze von Trachin, in vieler Zeugen Gegenwart, gehört, daß dein Gatte Herkules ganz allein um dieſer Jungfrau willen die hohe Burg Oechalia's niedergeworfen hat. Es iſt Jole, die Tochter des Eurytus, die du auf¬ genommen haſt, von deren Liebe Herkules entbrannt war, ehe er dich kennen gelernt hat. Nicht als deine Sclavin, ſondern als deine Nebenbuhlerin, als Nebenweib iſt ſie in dein Haus gekommen!“ Ueber dieſer Mittheilung brach Deïanira in laute Wehklagen aus. Doch faßte ſie ſich bald wieder, und rief den Diener ihres Gatten, Lichas ſelbſt, herbei. Dieſer ſchwur anfangs beim höchſten Zeus, daß er ihr die Wahrheit geſagt habe, und ihm unbe¬ wußt ſey, wer die Eltern der Jungfrau wären. Lange beharrte er bei dieſer Lüge. Deïanira aber beſchwor ihn, des höchſten Jupiter nicht länger zu ſpotten. „Wäre es auch möglich, daß ich meinem Gatten ſeiner Untreue wegen abhold würde,“ ſagte ſie zu ihm weinend, „ſo bin ich nicht ſo unedler Geſinnung, daß ich dieſer Jung¬ frau zürne, die mir nie einen Schimpf angethan hat. Nur mit Mitleiden ſchaue ich ſie an, denn ihr hat die Schönheit all ihr Lebensglück zertrümmert, ja ihr ganzes Geburtsland in Knechtſchaft geſtürzt!“ Als Lichas ſie ſo menſchlich reden hörte, geſtand er Alles. Hierauf entließ ihn Deïanira ohne Vorwurf und befahl ihm nur ſo lange zu warten, bis ſie für die reiche Schaar von Gefangenen, die der Gemahl ihr zugeſendet, und zur Verfügung ge¬ ſtellt hatte, dieſem eine Gegengabe gerüſtet hatte.
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bieterin näher, und ſobald er ſich unbelauſcht wußte, flüſterte
er ihr die Worte zu: „Traue dem Abgeſandten deines Ge¬
mahls nicht, Deïanira. Er verbirgt dir die Wahrheit.
Aus ſeinem eigenen Munde habe ich mitten auf dem
Marktplatze von Trachin, in vieler Zeugen Gegenwart,
gehört, daß dein Gatte Herkules ganz allein um dieſer
Jungfrau willen die hohe Burg Oechalia's niedergeworfen
hat. Es iſt Jole, die Tochter des Eurytus, die du auf¬
genommen haſt, von deren Liebe Herkules entbrannt war,
ehe er dich kennen gelernt hat. Nicht als deine Sclavin,
ſondern als deine Nebenbuhlerin, als Nebenweib iſt ſie
in dein Haus gekommen!“ Ueber dieſer Mittheilung brach
Deïanira in laute Wehklagen aus. Doch faßte ſie ſich
bald wieder, und rief den Diener ihres Gatten, Lichas
ſelbſt, herbei. Dieſer ſchwur anfangs beim höchſten Zeus,
daß er ihr die Wahrheit geſagt habe, und ihm unbe¬
wußt ſey, wer die Eltern der Jungfrau wären. Lange
beharrte er bei dieſer Lüge. Deïanira aber beſchwor
ihn, des höchſten Jupiter nicht länger zu ſpotten. „Wäre
es auch möglich, daß ich meinem Gatten ſeiner Untreue
wegen abhold würde,“ ſagte ſie zu ihm weinend, „ſo bin
ich nicht ſo unedler Geſinnung, daß ich dieſer Jung¬
frau zürne, die mir nie einen Schimpf angethan hat.
Nur mit Mitleiden ſchaue ich ſie an, denn ihr hat die
Schönheit all ihr Lebensglück zertrümmert, ja ihr ganzes
Geburtsland in Knechtſchaft geſtürzt!“ Als Lichas ſie ſo
menſchlich reden hörte, geſtand er Alles. Hierauf entließ
ihn Deïanira ohne Vorwurf und befahl ihm nur ſo lange
zu warten, bis ſie für die reiche Schaar von Gefangenen,
die der Gemahl ihr zugeſendet, und zur Verfügung ge¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/288>, abgerufen am 22.11.2024.
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