Dießmal aber hatte die Verwandtschaft mit dem Bräuti¬ gam sie den alten Groll vergessen lassen und zu dem Freudenfeste herbeigelockt. Die festliche Hofburg des Pi¬ rithous erscholl von wirrem Getümmel; Brautlieder wurden gesungen, von Gluth, Wein und Speisen dampf¬ ten die Gemächer. Der Pallast faßte nicht alle die Gäste. Lapithen und Centauren, in bunten Reihen ge¬ mengt, saßen an geordneten Tischen in baumumschatteten Grotten zu Gaste.
Lange rauschte das Fest in ungestörter Fröhlichkeit. Da begann vom vielen Genusse des Weines das Herz des wildesten unter den Centauren, Eurytion, zu ra¬ sen, und der Anblick der schönen Jungfrau Hippodamia verführte ihn zu dem tollen Gedanken, dem Bräutigam seine Braut zu rauben. Niemand wußte wie es gekom¬ men war, niemand hatte den Beginn der unsinnigen That bemerkt, aber auf einmal sahen die Gäste den wü¬ thenden Eurytion, wie er die sich sträubende und hülfe¬ rufende Hippodamia an den Haaren gewaltsam auf dem Boden schleifte. Seine Unthat war für die weinerhitzte Schaar der Centauren ein Zeichen, Gleiches zu wagen; und ehe die fremden Helden und die Lapithen sich von ihren Sitzen erhoben hatten, hielt schon jeder der Cen¬ tauren eins der thessalischen Mädchen, die am Hofe des Königes dienten, oder als Gäste bei der Hochzeit zuge¬ gen waren, mit rohen Händen als eine Beute gefaßt. Die Hofburg und die Gärten glichen einer eroberten Stadt. Das Geschrei der Weiber hallte durch das weite Haus. Schnell sprangen Freunde und Geschlechtsverwandte der Braut von ihren Sitzen empor. "Welche Verblendung treibt dich, Eurytion," rief Theseus, "den Pirithous zu
Dießmal aber hatte die Verwandtſchaft mit dem Bräuti¬ gam ſie den alten Groll vergeſſen laſſen und zu dem Freudenfeſte herbeigelockt. Die feſtliche Hofburg des Pi¬ rithous erſcholl von wirrem Getümmel; Brautlieder wurden geſungen, von Gluth, Wein und Speiſen dampf¬ ten die Gemächer. Der Pallaſt faßte nicht alle die Gäſte. Lapithen und Centauren, in bunten Reihen ge¬ mengt, ſaßen an geordneten Tiſchen in baumumſchatteten Grotten zu Gaſte.
Lange rauſchte das Feſt in ungeſtörter Fröhlichkeit. Da begann vom vielen Genuſſe des Weines das Herz des wildeſten unter den Centauren, Eurytion, zu ra¬ ſen, und der Anblick der ſchönen Jungfrau Hippodamia verführte ihn zu dem tollen Gedanken, dem Bräutigam ſeine Braut zu rauben. Niemand wußte wie es gekom¬ men war, niemand hatte den Beginn der unſinnigen That bemerkt, aber auf einmal ſahen die Gäſte den wü¬ thenden Eurytion, wie er die ſich ſträubende und hülfe¬ rufende Hippodamia an den Haaren gewaltſam auf dem Boden ſchleifte. Seine Unthat war für die weinerhitzte Schaar der Centauren ein Zeichen, Gleiches zu wagen; und ehe die fremden Helden und die Lapithen ſich von ihren Sitzen erhoben hatten, hielt ſchon jeder der Cen¬ tauren eins der theſſaliſchen Mädchen, die am Hofe des Königes dienten, oder als Gäſte bei der Hochzeit zuge¬ gen waren, mit rohen Händen als eine Beute gefaßt. Die Hofburg und die Gärten glichen einer eroberten Stadt. Das Geſchrei der Weiber hallte durch das weite Haus. Schnell ſprangen Freunde und Geſchlechtsverwandte der Braut von ihren Sitzen empor. „Welche Verblendung treibt dich, Eurytion,“ rief Theſeus, „den Pirithous zu
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Dießmal aber hatte die Verwandtſchaft mit dem Bräuti¬
gam ſie den alten Groll vergeſſen laſſen und zu dem
Freudenfeſte herbeigelockt. Die feſtliche Hofburg des Pi¬
rithous erſcholl von wirrem Getümmel; Brautlieder
wurden geſungen, von Gluth, Wein und Speiſen dampf¬
ten die Gemächer. Der Pallaſt faßte nicht alle die
Gäſte. Lapithen und Centauren, in bunten Reihen ge¬
mengt, ſaßen an geordneten Tiſchen in baumumſchatteten
Grotten zu Gaſte.
Lange rauſchte das Feſt in ungeſtörter Fröhlichkeit.
Da begann vom vielen Genuſſe des Weines das Herz
des wildeſten unter den Centauren, Eurytion, zu ra¬
ſen, und der Anblick der ſchönen Jungfrau Hippodamia
verführte ihn zu dem tollen Gedanken, dem Bräutigam
ſeine Braut zu rauben. Niemand wußte wie es gekom¬
men war, niemand hatte den Beginn der unſinnigen
That bemerkt, aber auf einmal ſahen die Gäſte den wü¬
thenden Eurytion, wie er die ſich ſträubende und hülfe¬
rufende Hippodamia an den Haaren gewaltſam auf dem
Boden ſchleifte. Seine Unthat war für die weinerhitzte
Schaar der Centauren ein Zeichen, Gleiches zu wagen;
und ehe die fremden Helden und die Lapithen ſich von
ihren Sitzen erhoben hatten, hielt ſchon jeder der Cen¬
tauren eins der theſſaliſchen Mädchen, die am Hofe des
Königes dienten, oder als Gäſte bei der Hochzeit zuge¬
gen waren, mit rohen Händen als eine Beute gefaßt.
Die Hofburg und die Gärten glichen einer eroberten Stadt.
Das Geſchrei der Weiber hallte durch das weite Haus.
Schnell ſprangen Freunde und Geſchlechtsverwandte der
Braut von ihren Sitzen empor. „Welche Verblendung
treibt dich, Eurytion,“ rief Theſeus, „den Pirithous zu
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/322>, abgerufen am 22.11.2024.
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