nur mein Leiden seyn, denn ich habe mehr geduldet, als sonst Sterblichen zu leiden auferlegt wird. Ich bin Hyp¬ sipyle, einst die gefeierte Königin der Amazonen auf Lemnos, die Tochter des herrlichen Thoas, jetzt nach unnennbarem Jammer von Seeräubern entführt und verkauft, die gefangene Sclavin des Königs Lykurgus von Nemea. Der Knabe, den ich säuge, ist nicht mein eigenes Kind; er ist Opheltes, der Sohn meines Herrn, und ich bin ihm zur Wärterin bestellt. Aber was ihr von mir begehret, will ich euch gerne verschaffen. Noch eine einzige Quelle sprudelt in dieser trostlosen Ein¬ öde, und ihren geheimen Zugang kennt niemand, als ich. Sie ist ergiebig genug, euer ganzes Heer zu erqui¬ cken. Folget mir!" Die Frau stand auf, legte den Säug¬ ling sorglich in's Gras und lullte ihn mit einem Wie¬ genliede in den Schlaf. Die Helden riefen ihren Ge¬ nossen, und nun drängte sich das ganze Heer Hypsipyle's Tritten nach auf geheimen Pfaden, die durch's dichteste Waldgebüsch führten. Bald gelangten sie zu einer fel¬ sigen Thalschlucht, aus der kühler Wasserstaub empor¬ drang und die erhitzten Angesichter der vordersten Krie¬ ger, die der Führerin und ihrem König vorangeeilt waren, mit leichtem Schaum erfrischte. Zugleich rauschte das Murmeln eines starken Wasserfalles an ihr Ohr. "Was¬ ser!" so tönte der Freudenruf aus dem Munde der Vor¬ angedrungenen, die mit einigen Sprüngen schon unten in der Schlucht und mitten auf dem bespülten Felsgesteine standen und die Strahlen des herabfließenden Quelles mit den Helmen auffaßten. "Wasser, Wasser!" wieder¬ holte das ganze Heer und der Jubelruf übertönte den Wasserfall und hallte von den Bergen wieder, welche die
nur mein Leiden ſeyn, denn ich habe mehr geduldet, als ſonſt Sterblichen zu leiden auferlegt wird. Ich bin Hyp¬ ſipyle, einſt die gefeierte Königin der Amazonen auf Lemnos, die Tochter des herrlichen Thoas, jetzt nach unnennbarem Jammer von Seeräubern entführt und verkauft, die gefangene Sclavin des Königs Lykurgus von Nemea. Der Knabe, den ich ſäuge, iſt nicht mein eigenes Kind; er iſt Opheltes, der Sohn meines Herrn, und ich bin ihm zur Wärterin beſtellt. Aber was ihr von mir begehret, will ich euch gerne verſchaffen. Noch eine einzige Quelle ſprudelt in dieſer troſtloſen Ein¬ öde, und ihren geheimen Zugang kennt niemand, als ich. Sie iſt ergiebig genug, euer ganzes Heer zu erqui¬ cken. Folget mir!“ Die Frau ſtand auf, legte den Säug¬ ling ſorglich in's Gras und lullte ihn mit einem Wie¬ genliede in den Schlaf. Die Helden riefen ihren Ge¬ noſſen, und nun drängte ſich das ganze Heer Hypſipyle's Tritten nach auf geheimen Pfaden, die durch's dichteſte Waldgebüſch führten. Bald gelangten ſie zu einer fel¬ ſigen Thalſchlucht, aus der kühler Waſſerſtaub empor¬ drang und die erhitzten Angeſichter der vorderſten Krie¬ ger, die der Führerin und ihrem König vorangeeilt waren, mit leichtem Schaum erfriſchte. Zugleich rauſchte das Murmeln eines ſtarken Waſſerfalles an ihr Ohr. „Waſ¬ ſer!“ ſo tönte der Freudenruf aus dem Munde der Vor¬ angedrungenen, die mit einigen Sprüngen ſchon unten in der Schlucht und mitten auf dem beſpülten Felsgeſteine ſtanden und die Strahlen des herabfließenden Quelles mit den Helmen auffaßten. „Waſſer, Waſſer!“ wieder¬ holte das ganze Heer und der Jubelruf übertönte den Waſſerfall und hallte von den Bergen wieder, welche die
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nur mein Leiden ſeyn, denn ich habe mehr geduldet, als
ſonſt Sterblichen zu leiden auferlegt wird. Ich bin Hyp¬
ſipyle, einſt die gefeierte Königin der Amazonen auf
Lemnos, die Tochter des herrlichen Thoas, jetzt nach
unnennbarem Jammer von Seeräubern entführt und
verkauft, die gefangene Sclavin des Königs Lykurgus
von Nemea. Der Knabe, den ich ſäuge, iſt nicht mein
eigenes Kind; er iſt Opheltes, der Sohn meines Herrn,
und ich bin ihm zur Wärterin beſtellt. Aber was ihr
von mir begehret, will ich euch gerne verſchaffen. Noch
eine einzige Quelle ſprudelt in dieſer troſtloſen Ein¬
öde, und ihren geheimen Zugang kennt niemand, als
ich. Sie iſt ergiebig genug, euer ganzes Heer zu erqui¬
cken. Folget mir!“ Die Frau ſtand auf, legte den Säug¬
ling ſorglich in's Gras und lullte ihn mit einem Wie¬
genliede in den Schlaf. Die Helden riefen ihren Ge¬
noſſen, und nun drängte ſich das ganze Heer Hypſipyle's
Tritten nach auf geheimen Pfaden, die durch's dichteſte
Waldgebüſch führten. Bald gelangten ſie zu einer fel¬
ſigen Thalſchlucht, aus der kühler Waſſerſtaub empor¬
drang und die erhitzten Angeſichter der vorderſten Krie¬
ger, die der Führerin und ihrem König vorangeeilt waren,
mit leichtem Schaum erfriſchte. Zugleich rauſchte das
Murmeln eines ſtarken Waſſerfalles an ihr Ohr. „Waſ¬
ſer!“ ſo tönte der Freudenruf aus dem Munde der Vor¬
angedrungenen, die mit einigen Sprüngen ſchon unten in
der Schlucht und mitten auf dem beſpülten Felsgeſteine
ſtanden und die Strahlen des herabfließenden Quelles
mit den Helmen auffaßten. „Waſſer, Waſſer!“ wieder¬
holte das ganze Heer und der Jubelruf übertönte den
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/375>, abgerufen am 25.11.2024.
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