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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Naupaktus, das heißt, Schiffswerft, bekam. Aber auch
dieser Zug sollte den Nachkommen des Herkules nicht
leicht werden, und ihnen viel Kummer und Thränen ko¬
sten. Als das Heer versammelt war, traf den jüngsten
der Brüder, Aristodemus, der Blitzstrahl, und machte
seine Gattin Argia, die Ururenkelin des Polynices, zur
Wittwe, und seine Zwillingssöhne, Eurysthenes und Pro¬
kleus, zu Waisen. Als sie den Bruder bestattet und be¬
weint hatten, und nun das Schiffsheer von Naupaktus
aufbrechen wollte, fand sich ein Seher bei demselben ein,
der von den Götter begeistert war und Orakelsprüche er¬
theilte. Sie aber hielten denselben für einen Zauberer
und Kundschafter, der von den Peloponnesiern zum Ver¬
derben ihres Heeres abgesandt sey. Schon lange waren
sie ihm daher aufsäßig, bis Hippotes, der Sohn des Phy¬
las, ein Urenkel des Herkules, nach dem Seher einen
Wurfspieß warf, der ihn traf und auf der Stelle tödtete.
Darüber zürnten die Götter den Herakliden: die See¬
macht wurde vom Sturm überfallen und ging zu Grunde;
die Landtruppen wurden von einer Hungersnoth gepeinigt,
und so löste sich allmählig das ganze Heer auf. Teme¬
nus befragte auch über dieses Unglück das Orakel. "Um
des Sehers willen, den ihr getödtet habt," eröffnete ihm
der Gott, "hat euch Unheil getroffen. Den Mörder sollt
ihr auf zehen Jahre des Landes verweisen, und dem Drei¬
äugigen den Heerbefehl übertragen." Der erste Theil des
Orakels war bald erfüllt: Hippotes wurde aus dem Heere
gestoßen, und mußte in die Verbannung gehen. Aber der
zweite Theil brachte die armen Herakliden zur Verzweif¬
lung. Denn wie und wo sollten sie einem Menschen mit
drei Augen begegnen? Indessen forschten sie unermüdlich

Naupaktus, das heißt, Schiffswerft, bekam. Aber auch
dieſer Zug ſollte den Nachkommen des Herkules nicht
leicht werden, und ihnen viel Kummer und Thränen ko¬
ſten. Als das Heer verſammelt war, traf den jüngſten
der Brüder, Ariſtodemus, der Blitzſtrahl, und machte
ſeine Gattin Argia, die Ururenkelin des Polynices, zur
Wittwe, und ſeine Zwillingsſöhne, Euryſthenes und Pro¬
kleus, zu Waiſen. Als ſie den Bruder beſtattet und be¬
weint hatten, und nun das Schiffsheer von Naupaktus
aufbrechen wollte, fand ſich ein Seher bei demſelben ein,
der von den Götter begeiſtert war und Orakelſprüche er¬
theilte. Sie aber hielten denſelben für einen Zauberer
und Kundſchafter, der von den Peloponneſiern zum Ver¬
derben ihres Heeres abgeſandt ſey. Schon lange waren
ſie ihm daher aufſäßig, bis Hippotes, der Sohn des Phy¬
las, ein Urenkel des Herkules, nach dem Seher einen
Wurfſpieß warf, der ihn traf und auf der Stelle tödtete.
Darüber zürnten die Götter den Herakliden: die See¬
macht wurde vom Sturm überfallen und ging zu Grunde;
die Landtruppen wurden von einer Hungersnoth gepeinigt,
und ſo löste ſich allmählig das ganze Heer auf. Teme¬
nus befragte auch über dieſes Unglück das Orakel. „Um
des Sehers willen, den ihr getödtet habt,“ eröffnete ihm
der Gott, „hat euch Unheil getroffen. Den Mörder ſollt
ihr auf zehen Jahre des Landes verweiſen, und dem Drei¬
äugigen den Heerbefehl übertragen.“ Der erſte Theil des
Orakels war bald erfüllt: Hippotes wurde aus dem Heere
geſtoßen, und mußte in die Verbannung gehen. Aber der
zweite Theil brachte die armen Herakliden zur Verzweif¬
lung. Denn wie und wo ſollten ſie einem Menſchen mit
drei Augen begegnen? Indeſſen forſchten ſie unermüdlich

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[405/0431] Naupaktus, das heißt, Schiffswerft, bekam. Aber auch dieſer Zug ſollte den Nachkommen des Herkules nicht leicht werden, und ihnen viel Kummer und Thränen ko¬ ſten. Als das Heer verſammelt war, traf den jüngſten der Brüder, Ariſtodemus, der Blitzſtrahl, und machte ſeine Gattin Argia, die Ururenkelin des Polynices, zur Wittwe, und ſeine Zwillingsſöhne, Euryſthenes und Pro¬ kleus, zu Waiſen. Als ſie den Bruder beſtattet und be¬ weint hatten, und nun das Schiffsheer von Naupaktus aufbrechen wollte, fand ſich ein Seher bei demſelben ein, der von den Götter begeiſtert war und Orakelſprüche er¬ theilte. Sie aber hielten denſelben für einen Zauberer und Kundſchafter, der von den Peloponneſiern zum Ver¬ derben ihres Heeres abgeſandt ſey. Schon lange waren ſie ihm daher aufſäßig, bis Hippotes, der Sohn des Phy¬ las, ein Urenkel des Herkules, nach dem Seher einen Wurfſpieß warf, der ihn traf und auf der Stelle tödtete. Darüber zürnten die Götter den Herakliden: die See¬ macht wurde vom Sturm überfallen und ging zu Grunde; die Landtruppen wurden von einer Hungersnoth gepeinigt, und ſo löste ſich allmählig das ganze Heer auf. Teme¬ nus befragte auch über dieſes Unglück das Orakel. „Um des Sehers willen, den ihr getödtet habt,“ eröffnete ihm der Gott, „hat euch Unheil getroffen. Den Mörder ſollt ihr auf zehen Jahre des Landes verweiſen, und dem Drei¬ äugigen den Heerbefehl übertragen.“ Der erſte Theil des Orakels war bald erfüllt: Hippotes wurde aus dem Heere geſtoßen, und mußte in die Verbannung gehen. Aber der zweite Theil brachte die armen Herakliden zur Verzweif¬ lung. Denn wie und wo ſollten ſie einem Menſchen mit drei Augen begegnen? Indeſſen forſchten ſie unermüdlich

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/431>, abgerufen am 21.11.2024.