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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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suchte sich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war.
Die eine pflückte die glänzende Narcisse, die andere wandte
sich der Balsam ausströmenden Hyacinthe zu, eine dritte
erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, andern gefiel
der gewürzige Quendel, wieder andere mähten den gel¬
ben lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin
und her; Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden, sie
stand, wie unter den Grazien die schaumgeborne Liebes¬
göttin, alle ihre Genossinnen überragend und hielt hoch
in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Rosen.

Als sie genug Blumen gesammelt, lagerten sich die
Jungfrauen, ihre Fürstin in der Mitte, harmlos auf dem
Rasen und fingen an Kränze zu flechten, die sie, den
Nymphen der Wiese zum Dank, an grünenden Bäumen
aufhängen wollten. Aber nicht lange sollten sie ihren
Sinn an den Blumen ergötzen, denn in das sorglose Ju¬
gendleben Europa's griff unversehens das Schicksal ein,
das ihr der Traum der verschwundenen Nacht geweis¬
sagt hatte. Jupiter, der Kronide, war von den Geschoßen
der Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Götterva¬
ter zu besiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit
der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den
Zorn der eifersüchtigen Juno fürchtete, auch nicht hoffen
durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu bethören,
so sann der verschlagene Gott auf eine neue List. Er
verwandelte seine Gestalt, und wurde ein Stier. Aber
welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht,
oder unters Joch gebeugt den schwer beladenen Wagen
zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden
Muskeln am Halse und vollen Wampen am Bug, seine
Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrech¬

ſuchte ſich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war.
Die eine pflückte die glänzende Narciſſe, die andere wandte
ſich der Balſam ausſtrömenden Hyacinthe zu, eine dritte
erwählte ſich das ſanfter duftende Veilchen, andern gefiel
der gewürzige Quendel, wieder andere mähten den gel¬
ben lockenden Krokus. So flogen die Geſpielinnen hin
und her; Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden, ſie
ſtand, wie unter den Grazien die ſchaumgeborne Liebes¬
göttin, alle ihre Genoſſinnen überragend und hielt hoch
in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Roſen.

Als ſie genug Blumen geſammelt, lagerten ſich die
Jungfrauen, ihre Fürſtin in der Mitte, harmlos auf dem
Raſen und fingen an Kränze zu flechten, die ſie, den
Nymphen der Wieſe zum Dank, an grünenden Bäumen
aufhängen wollten. Aber nicht lange ſollten ſie ihren
Sinn an den Blumen ergötzen, denn in das ſorgloſe Ju¬
gendleben Europa's griff unverſehens das Schickſal ein,
das ihr der Traum der verſchwundenen Nacht geweiſ¬
ſagt hatte. Jupiter, der Kronide, war von den Geſchoßen
der Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Götterva¬
ter zu beſiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit
der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den
Zorn der eiferſüchtigen Juno fürchtete, auch nicht hoffen
durfte, den unſchuldigen Sinn der Jungfrau zu bethören,
ſo ſann der verſchlagene Gott auf eine neue Liſt. Er
verwandelte ſeine Geſtalt, und wurde ein Stier. Aber
welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wieſe geht,
oder unters Joch gebeugt den ſchwer beladenen Wagen
zieht; nein, groß, herrlich von Geſtalt, mit ſchwellenden
Muskeln am Halſe und vollen Wampen am Bug, ſeine
Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrech¬

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[37/0063] ſuchte ſich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine pflückte die glänzende Narciſſe, die andere wandte ſich der Balſam ausſtrömenden Hyacinthe zu, eine dritte erwählte ſich das ſanfter duftende Veilchen, andern gefiel der gewürzige Quendel, wieder andere mähten den gel¬ ben lockenden Krokus. So flogen die Geſpielinnen hin und her; Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden, ſie ſtand, wie unter den Grazien die ſchaumgeborne Liebes¬ göttin, alle ihre Genoſſinnen überragend und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Roſen. Als ſie genug Blumen geſammelt, lagerten ſich die Jungfrauen, ihre Fürſtin in der Mitte, harmlos auf dem Raſen und fingen an Kränze zu flechten, die ſie, den Nymphen der Wieſe zum Dank, an grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange ſollten ſie ihren Sinn an den Blumen ergötzen, denn in das ſorgloſe Ju¬ gendleben Europa's griff unverſehens das Schickſal ein, das ihr der Traum der verſchwundenen Nacht geweiſ¬ ſagt hatte. Jupiter, der Kronide, war von den Geſchoßen der Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Götterva¬ ter zu beſiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eiferſüchtigen Juno fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unſchuldigen Sinn der Jungfrau zu bethören, ſo ſann der verſchlagene Gott auf eine neue Liſt. Er verwandelte ſeine Geſtalt, und wurde ein Stier. Aber welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wieſe geht, oder unters Joch gebeugt den ſchwer beladenen Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Geſtalt, mit ſchwellenden Muskeln am Halſe und vollen Wampen am Bug, ſeine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrech¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/63>, abgerufen am 21.11.2024.