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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Vater hießen mich so und bei allen meinen Freunden bin
ich so geheißen." Darauf antwortete der Cyklop: "Nun
sollst du auch dein Gastgeschenk erhalten; den Niemand,
den verzehre ich zuletzt nach allen seinen Schiffsgenossen,
Bist du mit der Gabe zufrieden, Niemand?"

Diese letzten Worte lallte der Cyklop nur noch,
lehnte sich rückwärts und taumelte bald ganz zu Boden.
Mit gekrümmtem, feisten Nacken dehnte er sich schnar¬
chend im Rausch, ja Wein und Menschenfleisch brach
er in der Trunkenheit aus seinem Schlunde heraus. Jetzt
steckte ich schnell den Pfahl in die glimmende Asche, bis
er Feuer fing, und als er schon Funken sprühte, zog ich
ihn heraus und mit den vier Freunden, die das Loos
getroffen hatte, stießen wir ihm die Spitze tief ins Auge
hinab, und ich, in die Höhe gerichtet, drehte den Pfahl,
wie ein Zimmermann einen Schiffsbalken durchbohrt.
Wimpern und Augenbraunen versengte die Gluth bis auf
die Wurzeln, daß es prasselte, und sein erlöschendes Auge
zischte, wie heißes Eisen im Wasser. Grauenvoll heulte
der Verletzte auf, so laut, daß die Höhle von dem Ge¬
brüll wiederhallte; und wir, vor Angst bebend, flüchteten
in den äußersten Winkel der Grotte.

Polyphem riß sich indessen den Pfahl aus der Au¬
genhöhle, von dem das Blut triefend herunterrann; er
schleuderte ihn weit von sich, und tobte wie ein Unsin¬
niger. Dann erhub er ein neues Zettergeschrei und rief
seine Stammesbrüder, die Cyklopen, herbei, die im Ge¬
birge umherwohnten. Diese kamen von allen Seiten her¬
an, umstellten die Höhle und wollten wissen, was ihrem
Bruder geschehen sey. Er aber brüllte aus der Höhle
heraus: "Niemand, Niemand bringt mich um, ihr Freunde!

Vater hießen mich ſo und bei allen meinen Freunden bin
ich ſo geheißen.“ Darauf antwortete der Cyklop: „Nun
ſollſt du auch dein Gaſtgeſchenk erhalten; den Niemand,
den verzehre ich zuletzt nach allen ſeinen Schiffsgenoſſen,
Biſt du mit der Gabe zufrieden, Niemand?“

Dieſe letzten Worte lallte der Cyklop nur noch,
lehnte ſich rückwärts und taumelte bald ganz zu Boden.
Mit gekrümmtem, feiſten Nacken dehnte er ſich ſchnar¬
chend im Rauſch, ja Wein und Menſchenfleiſch brach
er in der Trunkenheit aus ſeinem Schlunde heraus. Jetzt
ſteckte ich ſchnell den Pfahl in die glimmende Aſche, bis
er Feuer fing, und als er ſchon Funken ſprühte, zog ich
ihn heraus und mit den vier Freunden, die das Loos
getroffen hatte, ſtießen wir ihm die Spitze tief ins Auge
hinab, und ich, in die Höhe gerichtet, drehte den Pfahl,
wie ein Zimmermann einen Schiffsbalken durchbohrt.
Wimpern und Augenbraunen verſengte die Gluth bis auf
die Wurzeln, daß es praſſelte, und ſein erlöſchendes Auge
ziſchte, wie heißes Eiſen im Waſſer. Grauenvoll heulte
der Verletzte auf, ſo laut, daß die Höhle von dem Ge¬
brüll wiederhallte; und wir, vor Angſt bebend, flüchteten
in den äußerſten Winkel der Grotte.

Polyphem riß ſich indeſſen den Pfahl aus der Au¬
genhöhle, von dem das Blut triefend herunterrann; er
ſchleuderte ihn weit von ſich, und tobte wie ein Unſin¬
niger. Dann erhub er ein neues Zettergeſchrei und rief
ſeine Stammesbrüder, die Cyklopen, herbei, die im Ge¬
birge umherwohnten. Dieſe kamen von allen Seiten her¬
an, umſtellten die Höhle und wollten wiſſen, was ihrem
Bruder geſchehen ſey. Er aber brüllte aus der Höhle
heraus: „Niemand, Niemand bringt mich um, ihr Freunde!

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[132/0154] Vater hießen mich ſo und bei allen meinen Freunden bin ich ſo geheißen.“ Darauf antwortete der Cyklop: „Nun ſollſt du auch dein Gaſtgeſchenk erhalten; den Niemand, den verzehre ich zuletzt nach allen ſeinen Schiffsgenoſſen, Biſt du mit der Gabe zufrieden, Niemand?“ Dieſe letzten Worte lallte der Cyklop nur noch, lehnte ſich rückwärts und taumelte bald ganz zu Boden. Mit gekrümmtem, feiſten Nacken dehnte er ſich ſchnar¬ chend im Rauſch, ja Wein und Menſchenfleiſch brach er in der Trunkenheit aus ſeinem Schlunde heraus. Jetzt ſteckte ich ſchnell den Pfahl in die glimmende Aſche, bis er Feuer fing, und als er ſchon Funken ſprühte, zog ich ihn heraus und mit den vier Freunden, die das Loos getroffen hatte, ſtießen wir ihm die Spitze tief ins Auge hinab, und ich, in die Höhe gerichtet, drehte den Pfahl, wie ein Zimmermann einen Schiffsbalken durchbohrt. Wimpern und Augenbraunen verſengte die Gluth bis auf die Wurzeln, daß es praſſelte, und ſein erlöſchendes Auge ziſchte, wie heißes Eiſen im Waſſer. Grauenvoll heulte der Verletzte auf, ſo laut, daß die Höhle von dem Ge¬ brüll wiederhallte; und wir, vor Angſt bebend, flüchteten in den äußerſten Winkel der Grotte. Polyphem riß ſich indeſſen den Pfahl aus der Au¬ genhöhle, von dem das Blut triefend herunterrann; er ſchleuderte ihn weit von ſich, und tobte wie ein Unſin¬ niger. Dann erhub er ein neues Zettergeſchrei und rief ſeine Stammesbrüder, die Cyklopen, herbei, die im Ge¬ birge umherwohnten. Dieſe kamen von allen Seiten her¬ an, umſtellten die Höhle und wollten wiſſen, was ihrem Bruder geſchehen ſey. Er aber brüllte aus der Höhle heraus: „Niemand, Niemand bringt mich um, ihr Freunde!

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/154>, abgerufen am 29.04.2024.