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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Niemand thut es mit Arglist!" Als die Cyklopen das
hörten, sprachen sie: "Nun, wenn Niemand dir etwas
zu Leide thut, wenn dich keine Seele angreift, was
schreiest du denn so? Du bist wohl krank; aber gegen
Krankheit haben wir Cyklopen keine Mittel!" So schrieen
sie und eilten wieder davon. Mir aber lachte das Herz
im Leibe.

Der blinde Cyklop tappte indessen in seiner Höhle
umher, immer noch vor Schmerzen winselnd. Er nahm
den Felsstein vom Eingange, setzte sich dann unter die
Pforte, und tastete mit den Händen umher, um einen
Jeden von uns zu fangen, der Lust hätte, mit den
Schafen zu entwischen; denn er hielt mich so einfältig,
daß ich es auf diese Weise angreifen würde. Ich aber
kam inzwischen an tausenderlei Planen herum, bis ich
den rechten ausfindig machte. Es standen nämlich ge¬
mästete Widder mit dem dichtesten Fließe um uns her,
gar groß und stattlich. Die verband ich ganz geheim
mit den Ruthen des Weidengeflechtes, auf welchem der Cy¬
klop schlief, je drei und drei; und der mittlere trug unter
seinem Bauche immer einen von uns Männern, der sich
an seiner Wolle festhielt, indessen die beiden andern Wid¬
der rechts und links, die heimliche Last beschirmend, ein¬
hertrollten. Ich selber wählte den stattlichsten Bock, der
hoch über alle andern hervorragte. Ihn faßte ich am
Rücken, wälzte mich unter seinen Bauch und hielt die
Hände fest in den gekräuselten Wollenflocken gedreht. So
unter den Widdern hängend erwarteten wir mit unter¬
drückten Seufzern den Morgen, Er kam; und die männ¬
liche Heerde sprang zuerst hüpfend aus der Höhle auf
die Weide. Nur die Weibchen blöckten noch mit strotzenden

Niemand thut es mit Argliſt!“ Als die Cyklopen das
hörten, ſprachen ſie: „Nun, wenn Niemand dir etwas
zu Leide thut, wenn dich keine Seele angreift, was
ſchreieſt du denn ſo? Du biſt wohl krank; aber gegen
Krankheit haben wir Cyklopen keine Mittel!“ So ſchrieen
ſie und eilten wieder davon. Mir aber lachte das Herz
im Leibe.

Der blinde Cyklop tappte indeſſen in ſeiner Höhle
umher, immer noch vor Schmerzen winſelnd. Er nahm
den Felsſtein vom Eingange, ſetzte ſich dann unter die
Pforte, und taſtete mit den Händen umher, um einen
Jeden von uns zu fangen, der Luſt hätte, mit den
Schafen zu entwiſchen; denn er hielt mich ſo einfältig,
daß ich es auf dieſe Weiſe angreifen würde. Ich aber
kam inzwiſchen an tauſenderlei Planen herum, bis ich
den rechten ausfindig machte. Es ſtanden nämlich ge¬
mäſtete Widder mit dem dichteſten Fließe um uns her,
gar groß und ſtattlich. Die verband ich ganz geheim
mit den Ruthen des Weidengeflechtes, auf welchem der Cy¬
klop ſchlief, je drei und drei; und der mittlere trug unter
ſeinem Bauche immer einen von uns Männern, der ſich
an ſeiner Wolle feſthielt, indeſſen die beiden andern Wid¬
der rechts und links, die heimliche Laſt beſchirmend, ein¬
hertrollten. Ich ſelber wählte den ſtattlichſten Bock, der
hoch über alle andern hervorragte. Ihn faßte ich am
Rücken, wälzte mich unter ſeinen Bauch und hielt die
Hände feſt in den gekräuſelten Wollenflocken gedreht. So
unter den Widdern hängend erwarteten wir mit unter¬
drückten Seufzern den Morgen, Er kam; und die männ¬
liche Heerde ſprang zuerſt hüpfend aus der Höhle auf
die Weide. Nur die Weibchen blöckten noch mit ſtrotzenden

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[133/0155] Niemand thut es mit Argliſt!“ Als die Cyklopen das hörten, ſprachen ſie: „Nun, wenn Niemand dir etwas zu Leide thut, wenn dich keine Seele angreift, was ſchreieſt du denn ſo? Du biſt wohl krank; aber gegen Krankheit haben wir Cyklopen keine Mittel!“ So ſchrieen ſie und eilten wieder davon. Mir aber lachte das Herz im Leibe. Der blinde Cyklop tappte indeſſen in ſeiner Höhle umher, immer noch vor Schmerzen winſelnd. Er nahm den Felsſtein vom Eingange, ſetzte ſich dann unter die Pforte, und taſtete mit den Händen umher, um einen Jeden von uns zu fangen, der Luſt hätte, mit den Schafen zu entwiſchen; denn er hielt mich ſo einfältig, daß ich es auf dieſe Weiſe angreifen würde. Ich aber kam inzwiſchen an tauſenderlei Planen herum, bis ich den rechten ausfindig machte. Es ſtanden nämlich ge¬ mäſtete Widder mit dem dichteſten Fließe um uns her, gar groß und ſtattlich. Die verband ich ganz geheim mit den Ruthen des Weidengeflechtes, auf welchem der Cy¬ klop ſchlief, je drei und drei; und der mittlere trug unter ſeinem Bauche immer einen von uns Männern, der ſich an ſeiner Wolle feſthielt, indeſſen die beiden andern Wid¬ der rechts und links, die heimliche Laſt beſchirmend, ein¬ hertrollten. Ich ſelber wählte den ſtattlichſten Bock, der hoch über alle andern hervorragte. Ihn faßte ich am Rücken, wälzte mich unter ſeinen Bauch und hielt die Hände feſt in den gekräuſelten Wollenflocken gedreht. So unter den Widdern hängend erwarteten wir mit unter¬ drückten Seufzern den Morgen, Er kam; und die männ¬ liche Heerde ſprang zuerſt hüpfend aus der Höhle auf die Weide. Nur die Weibchen blöckten noch mit ſtrotzenden

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/155>, abgerufen am 29.04.2024.