Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

und er hofft, daß das gerechte Urtheil, welches in den früheren Bän¬
den zarte Schonung verletzbarer Ohren und mit heiliger Scheu zu
behandelnder Gemüther anerkannt hat, sich auch auf die Bearbei¬
tung des genannten Stoffes erstrecken werde. Bei der möglichst
hergestellten Harmonie der Tragiker ist besondere Rücksicht auf diese
Forderung der Sittlichkeit, welche selbst der freieste Schönheitssinn
anerkennen wird, genommen worden.

In der Behandlung der Odyssee war eine solche Vorsicht
nicht nöthig. Hier brauchte sich der Darsteller nur so streng als
möglich an das Originalkunstwerk des Alterthums zu halten, um
den rührendsten Eindruck der Unschuld und Sittenreinheit zu machen.
Wer sich überzeugen will, daß die menschliche Natur, so untüchtig
durch sich selbst zum vollkommen Guten, doch keineswegs vollkommen
untüchtig zum Guten ist, der stärke seinen Glauben an die Mensch¬
heit, welcher der frömmsten Religionsüberzeugung nicht zuwider¬
läuft, an diesem Werke des grauen Heidenthums.

Die Aeneis hat dem Verfasser am meisten zu schaffen gemacht.
Hier die Längen abzuschneiden, ohne das Ziel des Weges selbst un¬
zugänglich zu machen; alle jene Zuthaten ersonnener Volkssage, die,
nach einer Ilias und Odyssee, in ihrem prunkenden Scheine selbst einem
Kinde fühlbar werden müßten, zu entfernen, ohne den Zusammenhang

und er hofft, daß das gerechte Urtheil, welches in den früheren Bän¬
den zarte Schonung verletzbarer Ohren und mit heiliger Scheu zu
behandelnder Gemüther anerkannt hat, ſich auch auf die Bearbei¬
tung des genannten Stoffes erſtrecken werde. Bei der möglichſt
hergeſtellten Harmonie der Tragiker iſt beſondere Rückſicht auf dieſe
Forderung der Sittlichkeit, welche ſelbſt der freieſte Schönheitsſinn
anerkennen wird, genommen worden.

In der Behandlung der Odyſſee war eine ſolche Vorſicht
nicht nöthig. Hier brauchte ſich der Darſteller nur ſo ſtreng als
möglich an das Originalkunſtwerk des Alterthums zu halten, um
den rührendſten Eindruck der Unſchuld und Sittenreinheit zu machen.
Wer ſich überzeugen will, daß die menſchliche Natur, ſo untüchtig
durch ſich ſelbſt zum vollkommen Guten, doch keineswegs vollkommen
untüchtig zum Guten iſt, der ſtärke ſeinen Glauben an die Menſch¬
heit, welcher der frömmſten Religionsüberzeugung nicht zuwider¬
läuft, an dieſem Werke des grauen Heidenthums.

Die Aeneis hat dem Verfaſſer am meiſten zu ſchaffen gemacht.
Hier die Längen abzuſchneiden, ohne das Ziel des Weges ſelbſt un¬
zugänglich zu machen; alle jene Zuthaten erſonnener Volksſage, die,
nach einer Ilias und Odyſſee, in ihrem prunkenden Scheine ſelbſt einem
Kinde fühlbar werden müßten, zu entfernen, ohne den Zuſammenhang

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="preface" n="1">
        <p><pb facs="#f0016" n="VI"/>
und er hofft, daß das gerechte Urtheil, welches in den früheren Bän¬<lb/>
den zarte Schonung verletzbarer Ohren und mit heiliger Scheu zu<lb/>
behandelnder Gemüther anerkannt hat, &#x017F;ich auch auf die Bearbei¬<lb/>
tung des genannten Stoffes er&#x017F;trecken werde. Bei der möglich&#x017F;t<lb/>
herge&#x017F;tellten Harmonie der Tragiker i&#x017F;t be&#x017F;ondere Rück&#x017F;icht auf die&#x017F;e<lb/>
Forderung der Sittlichkeit, welche &#x017F;elb&#x017F;t der freie&#x017F;te Schönheits&#x017F;inn<lb/>
anerkennen wird, genommen worden.</p><lb/>
        <p>In der Behandlung der <hi rendition="#g">Ody&#x017F;&#x017F;ee</hi> war eine &#x017F;olche Vor&#x017F;icht<lb/>
nicht nöthig. Hier brauchte &#x017F;ich der Dar&#x017F;teller nur &#x017F;o &#x017F;treng als<lb/>
möglich an das Originalkun&#x017F;twerk des Alterthums zu halten, um<lb/>
den rührend&#x017F;ten Eindruck der Un&#x017F;chuld und Sittenreinheit zu machen.<lb/>
Wer &#x017F;ich überzeugen will, daß die men&#x017F;chliche Natur, &#x017F;o untüchtig<lb/>
durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zum vollkommen Guten, doch keineswegs vollkommen<lb/>
untüchtig zum Guten i&#x017F;t, der &#x017F;tärke &#x017F;einen Glauben an die Men&#x017F;ch¬<lb/>
heit, welcher der frömm&#x017F;ten Religionsüberzeugung nicht zuwider¬<lb/>
läuft, an die&#x017F;em Werke des grauen Heidenthums.</p><lb/>
        <p>Die <hi rendition="#g">Aeneis</hi> hat dem Verfa&#x017F;&#x017F;er am mei&#x017F;ten zu &#x017F;chaffen gemacht.<lb/>
Hier die Längen abzu&#x017F;chneiden, ohne das Ziel des Weges &#x017F;elb&#x017F;t un¬<lb/>
zugänglich zu machen; alle jene Zuthaten er&#x017F;onnener Volks&#x017F;age, die,<lb/>
nach einer Ilias und Ody&#x017F;&#x017F;ee, in ihrem prunkenden Scheine &#x017F;elb&#x017F;t einem<lb/>
Kinde fühlbar werden müßten, zu entfernen, ohne den Zu&#x017F;ammenhang<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[VI/0016] und er hofft, daß das gerechte Urtheil, welches in den früheren Bän¬ den zarte Schonung verletzbarer Ohren und mit heiliger Scheu zu behandelnder Gemüther anerkannt hat, ſich auch auf die Bearbei¬ tung des genannten Stoffes erſtrecken werde. Bei der möglichſt hergeſtellten Harmonie der Tragiker iſt beſondere Rückſicht auf dieſe Forderung der Sittlichkeit, welche ſelbſt der freieſte Schönheitsſinn anerkennen wird, genommen worden. In der Behandlung der Odyſſee war eine ſolche Vorſicht nicht nöthig. Hier brauchte ſich der Darſteller nur ſo ſtreng als möglich an das Originalkunſtwerk des Alterthums zu halten, um den rührendſten Eindruck der Unſchuld und Sittenreinheit zu machen. Wer ſich überzeugen will, daß die menſchliche Natur, ſo untüchtig durch ſich ſelbſt zum vollkommen Guten, doch keineswegs vollkommen untüchtig zum Guten iſt, der ſtärke ſeinen Glauben an die Menſch¬ heit, welcher der frömmſten Religionsüberzeugung nicht zuwider¬ läuft, an dieſem Werke des grauen Heidenthums. Die Aeneis hat dem Verfaſſer am meiſten zu ſchaffen gemacht. Hier die Längen abzuſchneiden, ohne das Ziel des Weges ſelbſt un¬ zugänglich zu machen; alle jene Zuthaten erſonnener Volksſage, die, nach einer Ilias und Odyſſee, in ihrem prunkenden Scheine ſelbſt einem Kinde fühlbar werden müßten, zu entfernen, ohne den Zuſammenhang

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/16
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/16>, abgerufen am 24.11.2024.