Gattin, nach der du so ängstlich fragst, weilt in deinem Hause mit unerschütterlicher Treue, und Tag und Nacht weint sie um dich. Deinen Szepter führt kein anderer, sondern dein Sohn Telemachus verwaltet dein Gut. Dein Vater Laertes hat sichs auf's Land zurückgezogen, und kommt nie mehr in die Stadt; dort schläft er nicht in einer Fürstenkammer, nicht in einem weichen Bette; neben dem Heerdfeuer liegt er, wie andere Knechte, auf dem Stroh, in ein schlechtes Kleid gehüllt, den ganzen Win¬ ter über; im Sommer bettet er sich unter freiem Him¬ mel auf ein Bündel Reisig; und das Alles thut er aus Jammer über dein Geschick. Ich selbst bin dem Gram über dich, mein lieber Sohn, erlegen, und keine Krank¬ heit hat mich dahingerafft."
So sprach sie und machte mich vor Sehnsucht er¬ beben. Als ich sie aber in die Arme schließen wollte, zerstob sie wie ein Traumbild. Nun kamen andere Schat¬ ten daher, viele Gattinnen berühmter Helden. Sie tranken alle von dem Opferblute und erzählten mir ihre Geschicke. Als die Frauen nacheinander wieder verschwunden waren, ward mir ein Anblick zu Theil, der mir das Herz im Busen bewegte. Es kam nämlich die Seele des Völker¬ fürsten Agamemnon heran. Schwermüthig bewegte sich der große Schatten nach der Opfergrube und trank von dem Blute. Da blickte er auf, erkannte mich und fing zu weinen an. Vergebens streckte er die Hände aus, mich zu erreichen; in den Gliedern war keine Spannkraft; er sank zurück zur Ferne und antwortete von dort aus auf meine sehnlichen Fragen: "Edler Odysseus," sprach er, "mich hat nicht, wie du wähnst, der Zorn des Mee¬ resgottes verderbt, nicht Feinde auf der Veste haben
Gattin, nach der du ſo ängſtlich fragſt, weilt in deinem Hauſe mit unerſchütterlicher Treue, und Tag und Nacht weint ſie um dich. Deinen Szepter führt kein anderer, ſondern dein Sohn Telemachus verwaltet dein Gut. Dein Vater Laertes hat ſichs auf's Land zurückgezogen, und kommt nie mehr in die Stadt; dort ſchläft er nicht in einer Fürſtenkammer, nicht in einem weichen Bette; neben dem Heerdfeuer liegt er, wie andere Knechte, auf dem Stroh, in ein ſchlechtes Kleid gehüllt, den ganzen Win¬ ter über; im Sommer bettet er ſich unter freiem Him¬ mel auf ein Bündel Reiſig; und das Alles thut er aus Jammer über dein Geſchick. Ich ſelbſt bin dem Gram über dich, mein lieber Sohn, erlegen, und keine Krank¬ heit hat mich dahingerafft.“
So ſprach ſie und machte mich vor Sehnſucht er¬ beben. Als ich ſie aber in die Arme ſchließen wollte, zerſtob ſie wie ein Traumbild. Nun kamen andere Schat¬ ten daher, viele Gattinnen berühmter Helden. Sie tranken alle von dem Opferblute und erzählten mir ihre Geſchicke. Als die Frauen nacheinander wieder verſchwunden waren, ward mir ein Anblick zu Theil, der mir das Herz im Buſen bewegte. Es kam nämlich die Seele des Völker¬ fürſten Agamemnon heran. Schwermüthig bewegte ſich der große Schatten nach der Opfergrube und trank von dem Blute. Da blickte er auf, erkannte mich und fing zu weinen an. Vergebens ſtreckte er die Hände aus, mich zu erreichen; in den Gliedern war keine Spannkraft; er ſank zurück zur Ferne und antwortete von dort aus auf meine ſehnlichen Fragen: „Edler Odyſſeus,“ ſprach er, „mich hat nicht, wie du wähnſt, der Zorn des Mee¬ resgottes verderbt, nicht Feinde auf der Veſte haben
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Gattin, nach der du ſo ängſtlich fragſt, weilt in deinem
Hauſe mit unerſchütterlicher Treue, und Tag und Nacht
weint ſie um dich. Deinen Szepter führt kein anderer,
ſondern dein Sohn Telemachus verwaltet dein Gut. Dein
Vater Laertes hat ſichs auf's Land zurückgezogen, und
kommt nie mehr in die Stadt; dort ſchläft er nicht in
einer Fürſtenkammer, nicht in einem weichen Bette; neben
dem Heerdfeuer liegt er, wie andere Knechte, auf dem
Stroh, in ein ſchlechtes Kleid gehüllt, den ganzen Win¬
ter über; im Sommer bettet er ſich unter freiem Him¬
mel auf ein Bündel Reiſig; und das Alles thut er aus
Jammer über dein Geſchick. Ich ſelbſt bin dem Gram
über dich, mein lieber Sohn, erlegen, und keine Krank¬
heit hat mich dahingerafft.“
So ſprach ſie und machte mich vor Sehnſucht er¬
beben. Als ich ſie aber in die Arme ſchließen wollte,
zerſtob ſie wie ein Traumbild. Nun kamen andere Schat¬
ten daher, viele Gattinnen berühmter Helden. Sie tranken
alle von dem Opferblute und erzählten mir ihre Geſchicke.
Als die Frauen nacheinander wieder verſchwunden waren,
ward mir ein Anblick zu Theil, der mir das Herz im
Buſen bewegte. Es kam nämlich die Seele des Völker¬
fürſten Agamemnon heran. Schwermüthig bewegte ſich
der große Schatten nach der Opfergrube und trank von
dem Blute. Da blickte er auf, erkannte mich und fing
zu weinen an. Vergebens ſtreckte er die Hände aus, mich
zu erreichen; in den Gliedern war keine Spannkraft;
er ſank zurück zur Ferne und antwortete von dort aus
auf meine ſehnlichen Fragen: „Edler Odyſſeus,“ ſprach
er, „mich hat nicht, wie du wähnſt, der Zorn des Mee¬
resgottes verderbt, nicht Feinde auf der Veſte haben
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/178>, abgerufen am 22.11.2024.
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