in den Strudel gerathest!" So hatte ich die Freunde vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla, das gegenüber drohete, schwieg ich noch weislich; ich fürchtete, die Genossen möchten mir vor Schrecken wieder die Ruder fahren lassen, und sich im innern Schiffsraume zusammendrängen.
Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergessen, das Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬ boten, mich zum Kampfe mit diesem Ungeheuer zu rüsten; ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüstung, nahm zwei Speere in die Hand und stellte mich so auf's Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen. Aber obgleich mir die Augen vom Umherschauen schmerz¬ ten, konnte sie mein Blick doch nicht entdecken, und so fuhr ich denn voll Todesangst in den immer enger wer¬ denden Meerschlund hinein. Diese Scylla hatte mir Circe so geschildert: "Sie ist kein sterblicher Gegner, vielmehr ein unsterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts gegen sie; die einzige Rettung ist, ihr zu entfliehen. Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem sein spitzes Haupt in die Wolken streckenden Fels, ewig von dunkelem Gewölk umfangen, von keinem Sonnenstrahl erleuchtet, und ganz aus glattem Gesteine aufgethürmt. Mitten in diesem Fels ist eine Höhle, schwarz wie die Nacht, in dieser haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die Fluth herüber hallt, wie das Geschrei eines neugebornen Hundes. Dieses Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und sechs Schlangenhälse, auf jedem derselben grinst ein scheu߬ licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die sie
11 *
in den Strudel geratheſt!“ So hatte ich die Freunde vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla, das gegenüber drohete, ſchwieg ich noch weislich; ich fürchtete, die Genoſſen möchten mir vor Schrecken wieder die Ruder fahren laſſen, und ſich im innern Schiffsraume zuſammendrängen.
Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergeſſen, das Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬ boten, mich zum Kampfe mit dieſem Ungeheuer zu rüſten; ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüſtung, nahm zwei Speere in die Hand und ſtellte mich ſo auf's Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen. Aber obgleich mir die Augen vom Umherſchauen ſchmerz¬ ten, konnte ſie mein Blick doch nicht entdecken, und ſo fuhr ich denn voll Todesangſt in den immer enger wer¬ denden Meerſchlund hinein. Dieſe Scylla hatte mir Circe ſo geſchildert: „Sie iſt kein ſterblicher Gegner, vielmehr ein unſterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts gegen ſie; die einzige Rettung iſt, ihr zu entfliehen. Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem ſein ſpitzes Haupt in die Wolken ſtreckenden Fels, ewig von dunkelem Gewölk umfangen, von keinem Sonnenſtrahl erleuchtet, und ganz aus glattem Geſteine aufgethürmt. Mitten in dieſem Fels iſt eine Höhle, ſchwarz wie die Nacht, in dieſer haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die Fluth herüber hallt, wie das Geſchrei eines neugebornen Hundes. Dieſes Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und ſechs Schlangenhälſe, auf jedem derſelben grinſt ein ſcheu߬ licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die ſie
11 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0185"n="163"/>
in den Strudel geratheſt!“ So hatte ich die Freunde<lb/>
vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir<lb/>
Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla,<lb/>
das gegenüber drohete, ſchwieg ich noch weislich; ich<lb/>
fürchtete, die Genoſſen möchten mir vor Schrecken wieder<lb/>
die Ruder fahren laſſen, und ſich im innern Schiffsraume<lb/>
zuſammendrängen.</p><lb/><p>Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergeſſen, das<lb/>
Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬<lb/>
boten, mich zum Kampfe mit dieſem Ungeheuer zu rüſten;<lb/>
ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüſtung,<lb/>
nahm zwei Speere in die Hand und ſtellte mich ſo auf's<lb/>
Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen.<lb/>
Aber obgleich mir die Augen vom Umherſchauen ſchmerz¬<lb/>
ten, konnte ſie mein Blick doch nicht entdecken, und ſo<lb/>
fuhr ich denn voll Todesangſt in den immer enger wer¬<lb/>
denden Meerſchlund hinein. Dieſe Scylla hatte mir Circe<lb/>ſo geſchildert: „Sie iſt kein ſterblicher Gegner, vielmehr<lb/>
ein unſterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts<lb/>
gegen ſie; die einzige Rettung iſt, ihr zu entfliehen.<lb/>
Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem ſein ſpitzes<lb/>
Haupt in die Wolken ſtreckenden Fels, ewig von dunkelem<lb/>
Gewölk umfangen, von keinem Sonnenſtrahl erleuchtet,<lb/>
und ganz aus glattem Geſteine aufgethürmt. Mitten in<lb/>
dieſem Fels iſt eine Höhle, ſchwarz wie die Nacht, in<lb/>
dieſer haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur<lb/>
durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die<lb/>
Fluth herüber hallt, wie das Geſchrei eines neugebornen<lb/>
Hundes. Dieſes Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und<lb/>ſechs Schlangenhälſe, auf jedem derſelben grinſt ein ſcheu߬<lb/>
licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die ſie<lb/><fwtype="sig"place="bottom">11 *<lb/></fw></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[163/0185]
in den Strudel geratheſt!“ So hatte ich die Freunde
vor dem Strudel Charybdis gewarnt, von welchen mir
Circe erzählt hatte; aber von dem Ungeheuer Scylla,
das gegenüber drohete, ſchwieg ich noch weislich; ich
fürchtete, die Genoſſen möchten mir vor Schrecken wieder
die Ruder fahren laſſen, und ſich im innern Schiffsraume
zuſammendrängen.
Eines andern Gebotes hatte ich jedoch vergeſſen, das
Circe mir auch gegeben. Sie hatte mir nämlich ver¬
boten, mich zum Kampfe mit dieſem Ungeheuer zu rüſten;
ich hüllte mich aber in meine volle Waffenrüſtung,
nahm zwei Speere in die Hand und ſtellte mich ſo auf's
Verdeck, um dem herankommenden Ungeheuer zu begegnen.
Aber obgleich mir die Augen vom Umherſchauen ſchmerz¬
ten, konnte ſie mein Blick doch nicht entdecken, und ſo
fuhr ich denn voll Todesangſt in den immer enger wer¬
denden Meerſchlund hinein. Dieſe Scylla hatte mir Circe
ſo geſchildert: „Sie iſt kein ſterblicher Gegner, vielmehr
ein unſterbliches Unheil, und Tapferkeit vermag nichts
gegen ſie; die einzige Rettung iſt, ihr zu entfliehen.
Sie wohnt gegenüber der Charybdis in einem ſein ſpitzes
Haupt in die Wolken ſtreckenden Fels, ewig von dunkelem
Gewölk umfangen, von keinem Sonnenſtrahl erleuchtet,
und ganz aus glattem Geſteine aufgethürmt. Mitten in
dieſem Fels iſt eine Höhle, ſchwarz wie die Nacht, in
dieſer haust die Scylla, und giebt ihre Gegenwart nur
durch ein fürchterliches Bellen kund, welches über die
Fluth herüber hallt, wie das Geſchrei eines neugebornen
Hundes. Dieſes Ungeheuer hat zwölf unförmliche Füße und
ſechs Schlangenhälſe, auf jedem derſelben grinſt ein ſcheu߬
licher Kopf mit drei dichten Reihen von Zähnen, die ſie
11 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/185>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.