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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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flätscht, ihre Opfer zu zermalmen; halb ist sie einwärts
in die Felskluft hinabgesenkt, ihre Häupter aber streckt
sie schnappend aus dem Abgrunde hervor und fischt nach
Seehunden, Delphinen und wohl auch größern Thieren
des Meeres. Noch nie hat sich ein Schiff gerühmt,
ohne Verlust an ihr vorübergekommen zu seyn; gewöhn¬
lich hat sie, ehe sichs der Schiffer versieht, in jedem
Rachen einen Mann zwischen den Zähnen, den sie aus
dem Schiff geraubt hat."

Dieses Bild hatte ich vor meiner Seele und spähte
vergebens umher. Indessen waren wir mit dem Schiffe
ganz nahe an die Charybdis gerathen, die die Meeres¬
fluth mit ihrem gierigen Rachen einschlürfte, und wieder
herausspie; die brauste wie ein Kessel über dem Feuer,
und weißer Schaum flog empor, so lange sie die Fluth
herausbrach; wenn sie dann die Woge wieder hinunter
schluckte, senkte sich das trübe Wassergemisch ganz in die
Tiefe, der Fels donnerte und man konnte in einen Ab¬
grund von schwarzem Schlamm hinuntersehen. Während
nun unsere Blicke mit starrem Entsetzen auf dieses Schau¬
spiel gerichtet waren, und unwillkürlich mit dem Schiffe
zur Linken auswichen, waren wir unversehens plötzlich
der bisher nicht entdeckten Scylla zu nahe gekommen und
ihre Rachen hatten auf Einen Zug sechs meiner tapfer¬
sten Genossen vom Bord hinweggeschnappt; ich sah sie
mit schwebenden Händen und Füßen zwischen den Zäh¬
nen des Ungeheuers hoch in die Lüfte gezückt; noch aus
seinen Rachen herauf riefen sie mich hülfeflehend bei
Namen: einen Augenblick darauf waren sie zermalmt.
So viel ich auf meiner Irrfahrt erduldet habe, ein jam¬
mervollerer Anblick ist mir nicht geworden!

flätſcht, ihre Opfer zu zermalmen; halb iſt ſie einwärts
in die Felskluft hinabgeſenkt, ihre Häupter aber ſtreckt
ſie ſchnappend aus dem Abgrunde hervor und fiſcht nach
Seehunden, Delphinen und wohl auch größern Thieren
des Meeres. Noch nie hat ſich ein Schiff gerühmt,
ohne Verluſt an ihr vorübergekommen zu ſeyn; gewöhn¬
lich hat ſie, ehe ſichs der Schiffer verſieht, in jedem
Rachen einen Mann zwiſchen den Zähnen, den ſie aus
dem Schiff geraubt hat.“

Dieſes Bild hatte ich vor meiner Seele und ſpähte
vergebens umher. Indeſſen waren wir mit dem Schiffe
ganz nahe an die Charybdis gerathen, die die Meeres¬
fluth mit ihrem gierigen Rachen einſchlürfte, und wieder
herausſpie; die brauste wie ein Keſſel über dem Feuer,
und weißer Schaum flog empor, ſo lange ſie die Fluth
herausbrach; wenn ſie dann die Woge wieder hinunter
ſchluckte, ſenkte ſich das trübe Waſſergemiſch ganz in die
Tiefe, der Fels donnerte und man konnte in einen Ab¬
grund von ſchwarzem Schlamm hinunterſehen. Während
nun unſere Blicke mit ſtarrem Entſetzen auf dieſes Schau¬
ſpiel gerichtet waren, und unwillkürlich mit dem Schiffe
zur Linken auswichen, waren wir unverſehens plötzlich
der bisher nicht entdeckten Scylla zu nahe gekommen und
ihre Rachen hatten auf Einen Zug ſechs meiner tapfer¬
ſten Genoſſen vom Bord hinweggeſchnappt; ich ſah ſie
mit ſchwebenden Händen und Füßen zwiſchen den Zäh¬
nen des Ungeheuers hoch in die Lüfte gezückt; noch aus
ſeinen Rachen herauf riefen ſie mich hülfeflehend bei
Namen: einen Augenblick darauf waren ſie zermalmt.
So viel ich auf meiner Irrfahrt erduldet habe, ein jam¬
mervollerer Anblick iſt mir nicht geworden!

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[164/0186] flätſcht, ihre Opfer zu zermalmen; halb iſt ſie einwärts in die Felskluft hinabgeſenkt, ihre Häupter aber ſtreckt ſie ſchnappend aus dem Abgrunde hervor und fiſcht nach Seehunden, Delphinen und wohl auch größern Thieren des Meeres. Noch nie hat ſich ein Schiff gerühmt, ohne Verluſt an ihr vorübergekommen zu ſeyn; gewöhn¬ lich hat ſie, ehe ſichs der Schiffer verſieht, in jedem Rachen einen Mann zwiſchen den Zähnen, den ſie aus dem Schiff geraubt hat.“ Dieſes Bild hatte ich vor meiner Seele und ſpähte vergebens umher. Indeſſen waren wir mit dem Schiffe ganz nahe an die Charybdis gerathen, die die Meeres¬ fluth mit ihrem gierigen Rachen einſchlürfte, und wieder herausſpie; die brauste wie ein Keſſel über dem Feuer, und weißer Schaum flog empor, ſo lange ſie die Fluth herausbrach; wenn ſie dann die Woge wieder hinunter ſchluckte, ſenkte ſich das trübe Waſſergemiſch ganz in die Tiefe, der Fels donnerte und man konnte in einen Ab¬ grund von ſchwarzem Schlamm hinunterſehen. Während nun unſere Blicke mit ſtarrem Entſetzen auf dieſes Schau¬ ſpiel gerichtet waren, und unwillkürlich mit dem Schiffe zur Linken auswichen, waren wir unverſehens plötzlich der bisher nicht entdeckten Scylla zu nahe gekommen und ihre Rachen hatten auf Einen Zug ſechs meiner tapfer¬ ſten Genoſſen vom Bord hinweggeſchnappt; ich ſah ſie mit ſchwebenden Händen und Füßen zwiſchen den Zäh¬ nen des Ungeheuers hoch in die Lüfte gezückt; noch aus ſeinen Rachen herauf riefen ſie mich hülfeflehend bei Namen: einen Augenblick darauf waren ſie zermalmt. So viel ich auf meiner Irrfahrt erduldet habe, ein jam¬ mervollerer Anblick iſt mir nicht geworden!

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/186>, abgerufen am 29.04.2024.