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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Jetzt aber waren wir auch glücklich zwischen dem
Strudel der Charybdis und den Felsen der Scylla hin¬
durch, die von der Sonne glänzende Insel Thrinakia
lag vor uns, und noch auf dem Meere hörten wir das
Gebrüll der heiligen Rinder des Sonnengottes und das
Blöcken seiner Schafe. Durch so viel Unglück gewitzigt,
dachte ich auf der Stelle an die Warnung des blinden
Tiresias in der Unterwelt und kündigte den Genossen an,
daß er und Circe mich gewarnt, die Insel des Helios
zu fliehen, weil uns dort noch das allerjämmerlichste
Schicksal bedrohe. Diese Erklärung betrübte meine Be¬
gleiter über die Maßen, und Eurylochus sagte ärgerlich:
"Du bist doch ein grausamer Mann, Odysseus, ganz
von Stahl, und hast kein Gelenk' im Nacken! Wie,
willst du im Ernst uns, den von Anstrengung und Er¬
müdung Entkräftigten nicht gönnen, einen Fuß ans Land
zu setzen und uns auf dieser Insel mit Speise und
Trank zu erquicken; sondern blindlings sollen wir in der
Stille der Nacht hinausfahren durch die schwarzen Meer¬
einöden? Wenn nun plötzlich im Dunkel der unbändige
Südwind, oder der pfeifende West herangewirbelt käme!
Laß uns wenigstens diese finstere Nacht am Ufer ver¬
passen, das uns so gastlich zuwinkt!"

Wie ich diesen Widerspruch hören mußte, da merkte
ich wohl, daß ein feindseliger Gott Böses über uns be¬
schlossen hatte. Ich sagte daher nur: "Eurylochus, es
ist keine Kunst, mich abzuzwingen, den einzelnen Mann
eurer so viele. So gebe ich euch denn nach. Aber einen
heiligen Schwur müßt ihr mir thun, dem Sonnengott
kein Rind oder auch nur ein Schaf abzuschlachten, wenn
ihr etwa seine Heerden ansichtig werden solltet. Begnüge

Jetzt aber waren wir auch glücklich zwiſchen dem
Strudel der Charybdis und den Felſen der Scylla hin¬
durch, die von der Sonne glänzende Inſel Thrinakia
lag vor uns, und noch auf dem Meere hörten wir das
Gebrüll der heiligen Rinder des Sonnengottes und das
Blöcken ſeiner Schafe. Durch ſo viel Unglück gewitzigt,
dachte ich auf der Stelle an die Warnung des blinden
Tireſias in der Unterwelt und kündigte den Genoſſen an,
daß er und Circe mich gewarnt, die Inſel des Helios
zu fliehen, weil uns dort noch das allerjämmerlichſte
Schickſal bedrohe. Dieſe Erklärung betrübte meine Be¬
gleiter über die Maßen, und Eurylochus ſagte ärgerlich:
„Du biſt doch ein grauſamer Mann, Odyſſeus, ganz
von Stahl, und haſt kein Gelenk' im Nacken! Wie,
willſt du im Ernſt uns, den von Anſtrengung und Er¬
müdung Entkräftigten nicht gönnen, einen Fuß ans Land
zu ſetzen und uns auf dieſer Inſel mit Speiſe und
Trank zu erquicken; ſondern blindlings ſollen wir in der
Stille der Nacht hinausfahren durch die ſchwarzen Meer¬
einöden? Wenn nun plötzlich im Dunkel der unbändige
Südwind, oder der pfeifende Weſt herangewirbelt käme!
Laß uns wenigſtens dieſe finſtere Nacht am Ufer ver¬
paſſen, das uns ſo gaſtlich zuwinkt!“

Wie ich dieſen Widerſpruch hören mußte, da merkte
ich wohl, daß ein feindſeliger Gott Böſes über uns be¬
ſchloſſen hatte. Ich ſagte daher nur: „Eurylochus, es
iſt keine Kunſt, mich abzuzwingen, den einzelnen Mann
eurer ſo viele. So gebe ich euch denn nach. Aber einen
heiligen Schwur müßt ihr mir thun, dem Sonnengott
kein Rind oder auch nur ein Schaf abzuſchlachten, wenn
ihr etwa ſeine Heerden anſichtig werden ſolltet. Begnüge

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[165/0187] Jetzt aber waren wir auch glücklich zwiſchen dem Strudel der Charybdis und den Felſen der Scylla hin¬ durch, die von der Sonne glänzende Inſel Thrinakia lag vor uns, und noch auf dem Meere hörten wir das Gebrüll der heiligen Rinder des Sonnengottes und das Blöcken ſeiner Schafe. Durch ſo viel Unglück gewitzigt, dachte ich auf der Stelle an die Warnung des blinden Tireſias in der Unterwelt und kündigte den Genoſſen an, daß er und Circe mich gewarnt, die Inſel des Helios zu fliehen, weil uns dort noch das allerjämmerlichſte Schickſal bedrohe. Dieſe Erklärung betrübte meine Be¬ gleiter über die Maßen, und Eurylochus ſagte ärgerlich: „Du biſt doch ein grauſamer Mann, Odyſſeus, ganz von Stahl, und haſt kein Gelenk' im Nacken! Wie, willſt du im Ernſt uns, den von Anſtrengung und Er¬ müdung Entkräftigten nicht gönnen, einen Fuß ans Land zu ſetzen und uns auf dieſer Inſel mit Speiſe und Trank zu erquicken; ſondern blindlings ſollen wir in der Stille der Nacht hinausfahren durch die ſchwarzen Meer¬ einöden? Wenn nun plötzlich im Dunkel der unbändige Südwind, oder der pfeifende Weſt herangewirbelt käme! Laß uns wenigſtens dieſe finſtere Nacht am Ufer ver¬ paſſen, das uns ſo gaſtlich zuwinkt!“ Wie ich dieſen Widerſpruch hören mußte, da merkte ich wohl, daß ein feindſeliger Gott Böſes über uns be¬ ſchloſſen hatte. Ich ſagte daher nur: „Eurylochus, es iſt keine Kunſt, mich abzuzwingen, den einzelnen Mann eurer ſo viele. So gebe ich euch denn nach. Aber einen heiligen Schwur müßt ihr mir thun, dem Sonnengott kein Rind oder auch nur ein Schaf abzuſchlachten, wenn ihr etwa ſeine Heerden anſichtig werden ſolltet. Begnüge

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/187>, abgerufen am 29.04.2024.