Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Freier, Amphinomus, das Gesicht umgewandt und einen
Blick auf den Hafen der Stadt geworfen, den man von
dem Vorhofe des Palastes aus mit den Augen erreichen
konnte. Er sah das Schiff, in welchem sich diejenigen
der Freier befanden, die auf den Hinterhalt ausgefahren
waren, wie es eben mit vollen Segeln in den Hafen
einlief. "Es bedarf keiner Botschaft um unsere Freunde,"
rief er, "hier sind sie ja schon; sey es, daß ein Gott
sie von Telemachs Heimkehr benachrichtiget hat, sey es,
daß er ihnen entkommen ist, und sie ihn nicht einzuholen
vermochten." Die Freier erhoben sich und eilten nach
dem Meeresstrande. Dann begaben sie sich mit den
Neuangekommenen auf den Markt, wo sie Niemand
sonst aus dem Volke zuließen, sondern ihre abgesonderte
Versammlung veranstalteten. Hier trat der Anführer der
Ausrüstung, der Freier Antinous, unter den Anwesenden
auf und sprach: "Wir sind nicht Schuld, daß der Mann
uns entronnen ist, ihr Freunde! Späher um Späher
hatten wir den Tag über auf den Höhen des Gestades
aufgestellt, und wenn die Sonne untergegangen war,
blieben wir nie die Nacht über auf dem Lande, sondern
wir kreuzten beständig auf der Meerenge und waren
nur darauf bedacht, den Telemachus zu erhaschen und
in aller Stille umzubringen. Ihn aber muß einer der
Unsterblichen heimgeleitet haben; denn nicht einmal sein
Schiff ist uns zu Gesichte gekommen! Dafür wollen wir
ihm hier in der Stadt selbst den Untergang bereiten.
Denn der Jüngling wird klug und wächst uns allmählig
über den Kopf. Auch das Volk wird uns am Ende
aufsäßig: bringt er es unter die Leute, daß wir ihm
auflauerten, ihn zu morden, so fallen sie am Ende über

Freier, Amphinomus, das Geſicht umgewandt und einen
Blick auf den Hafen der Stadt geworfen, den man von
dem Vorhofe des Palaſtes aus mit den Augen erreichen
konnte. Er ſah das Schiff, in welchem ſich diejenigen
der Freier befanden, die auf den Hinterhalt ausgefahren
waren, wie es eben mit vollen Segeln in den Hafen
einlief. „Es bedarf keiner Botſchaft um unſere Freunde,“
rief er, „hier ſind ſie ja ſchon; ſey es, daß ein Gott
ſie von Telemachs Heimkehr benachrichtiget hat, ſey es,
daß er ihnen entkommen iſt, und ſie ihn nicht einzuholen
vermochten.“ Die Freier erhoben ſich und eilten nach
dem Meeresſtrande. Dann begaben ſie ſich mit den
Neuangekommenen auf den Markt, wo ſie Niemand
ſonſt aus dem Volke zuließen, ſondern ihre abgeſonderte
Verſammlung veranſtalteten. Hier trat der Anführer der
Ausrüſtung, der Freier Antinous, unter den Anweſenden
auf und ſprach: „Wir ſind nicht Schuld, daß der Mann
uns entronnen iſt, ihr Freunde! Späher um Späher
hatten wir den Tag über auf den Höhen des Geſtades
aufgeſtellt, und wenn die Sonne untergegangen war,
blieben wir nie die Nacht über auf dem Lande, ſondern
wir kreuzten beſtändig auf der Meerenge und waren
nur darauf bedacht, den Telemachus zu erhaſchen und
in aller Stille umzubringen. Ihn aber muß einer der
Unſterblichen heimgeleitet haben; denn nicht einmal ſein
Schiff iſt uns zu Geſichte gekommen! Dafür wollen wir
ihm hier in der Stadt ſelbſt den Untergang bereiten.
Denn der Jüngling wird klug und wächſt uns allmählig
über den Kopf. Auch das Volk wird uns am Ende
aufſäßig: bringt er es unter die Leute, daß wir ihm
auflauerten, ihn zu morden, ſo fallen ſie am Ende über

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0232" n="210"/>
Freier, Amphinomus, das Ge&#x017F;icht umgewandt und einen<lb/>
Blick auf den Hafen der Stadt geworfen, den man von<lb/>
dem Vorhofe des Pala&#x017F;tes aus mit den Augen erreichen<lb/>
konnte. Er &#x017F;ah das Schiff, in welchem &#x017F;ich diejenigen<lb/>
der Freier befanden, die auf den Hinterhalt ausgefahren<lb/>
waren, wie es eben mit vollen Segeln in den Hafen<lb/>
einlief. &#x201E;Es bedarf keiner Bot&#x017F;chaft um un&#x017F;ere Freunde,&#x201C;<lb/>
rief er, &#x201E;hier &#x017F;ind &#x017F;ie ja &#x017F;chon; &#x017F;ey es, daß ein Gott<lb/>
&#x017F;ie von Telemachs Heimkehr benachrichtiget hat, &#x017F;ey es,<lb/>
daß er ihnen entkommen i&#x017F;t, und &#x017F;ie ihn nicht einzuholen<lb/>
vermochten.&#x201C; Die Freier erhoben &#x017F;ich und eilten nach<lb/>
dem Meeres&#x017F;trande. Dann begaben &#x017F;ie &#x017F;ich mit den<lb/>
Neuangekommenen auf den Markt, wo &#x017F;ie Niemand<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t aus dem Volke zuließen, &#x017F;ondern ihre abge&#x017F;onderte<lb/>
Ver&#x017F;ammlung veran&#x017F;talteten. Hier trat der Anführer der<lb/>
Ausrü&#x017F;tung, der Freier Antinous, unter den Anwe&#x017F;enden<lb/>
auf und &#x017F;prach: &#x201E;Wir &#x017F;ind nicht Schuld, daß der Mann<lb/>
uns entronnen i&#x017F;t, ihr Freunde! Späher um Späher<lb/>
hatten wir den Tag über auf den Höhen des Ge&#x017F;tades<lb/>
aufge&#x017F;tellt, und wenn die Sonne untergegangen war,<lb/>
blieben wir nie die Nacht über auf dem Lande, &#x017F;ondern<lb/>
wir kreuzten be&#x017F;tändig auf der Meerenge und waren<lb/>
nur darauf bedacht, den Telemachus zu erha&#x017F;chen und<lb/>
in aller Stille umzubringen. Ihn aber muß einer der<lb/>
Un&#x017F;terblichen heimgeleitet haben; denn nicht einmal &#x017F;ein<lb/>
Schiff i&#x017F;t uns zu Ge&#x017F;ichte gekommen! Dafür wollen wir<lb/>
ihm hier in der Stadt &#x017F;elb&#x017F;t den Untergang bereiten.<lb/>
Denn der Jüngling wird klug und wäch&#x017F;t uns allmählig<lb/>
über den Kopf. Auch das Volk wird uns am Ende<lb/>
auf&#x017F;äßig: bringt er es unter die Leute, daß wir ihm<lb/>
auflauerten, ihn zu morden, &#x017F;o fallen &#x017F;ie am Ende über<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0232] Freier, Amphinomus, das Geſicht umgewandt und einen Blick auf den Hafen der Stadt geworfen, den man von dem Vorhofe des Palaſtes aus mit den Augen erreichen konnte. Er ſah das Schiff, in welchem ſich diejenigen der Freier befanden, die auf den Hinterhalt ausgefahren waren, wie es eben mit vollen Segeln in den Hafen einlief. „Es bedarf keiner Botſchaft um unſere Freunde,“ rief er, „hier ſind ſie ja ſchon; ſey es, daß ein Gott ſie von Telemachs Heimkehr benachrichtiget hat, ſey es, daß er ihnen entkommen iſt, und ſie ihn nicht einzuholen vermochten.“ Die Freier erhoben ſich und eilten nach dem Meeresſtrande. Dann begaben ſie ſich mit den Neuangekommenen auf den Markt, wo ſie Niemand ſonſt aus dem Volke zuließen, ſondern ihre abgeſonderte Verſammlung veranſtalteten. Hier trat der Anführer der Ausrüſtung, der Freier Antinous, unter den Anweſenden auf und ſprach: „Wir ſind nicht Schuld, daß der Mann uns entronnen iſt, ihr Freunde! Späher um Späher hatten wir den Tag über auf den Höhen des Geſtades aufgeſtellt, und wenn die Sonne untergegangen war, blieben wir nie die Nacht über auf dem Lande, ſondern wir kreuzten beſtändig auf der Meerenge und waren nur darauf bedacht, den Telemachus zu erhaſchen und in aller Stille umzubringen. Ihn aber muß einer der Unſterblichen heimgeleitet haben; denn nicht einmal ſein Schiff iſt uns zu Geſichte gekommen! Dafür wollen wir ihm hier in der Stadt ſelbſt den Untergang bereiten. Denn der Jüngling wird klug und wächſt uns allmählig über den Kopf. Auch das Volk wird uns am Ende aufſäßig: bringt er es unter die Leute, daß wir ihm auflauerten, ihn zu morden, ſo fallen ſie am Ende über

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/232
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/232>, abgerufen am 24.11.2024.