Leichen umringt; denn die Freier alle lagen auf dem Boden übereinander gestreckt. So blutig er anzuschauen war, er hätte dir doch gefallen, Tochter; jetzt aber liegen die Leichname alle weit draußen vor der Hofpforte; das ganze Haus ist von mir mit reinigendem Schwefel durchräuchert worden: du kannst ohne alles Grauen hin¬ absteigen." "Alte, ich kann es immer noch nicht glau¬ ben," sprach Penelope, "es ist ein Unsterblicher, der die Freier erschlagen hat. Aber Odysseus -- ach nein, der ist ferne, der ist nicht mehr am Leben!" "Ungläubiges Herz," entgegnete kopfschüttelnd die Schaffnerin, "so will ich dir noch ein untrüglicheres Zeichen angeben. Du kennst ja die Narbe, die von des Ebers Zahne herrührt; nun damals, als ich auf deinen Befehl dem Bettler die Füße wusch, da erkannte ich sie, und wollte dirs auf der Stelle verkündigen: aber er schnürte mir die Gurgel zu und litt es nicht." "So laß uns denn hinabgehen," sagte Penelope, vor Furcht und Hoffnung zitternd; und so stiegen sie beide mit einander hinab in den Saal und schritten über die Schwelle. Hier setzte sich Penelope, ohne ein Wort zu reden, im Glanze des Heerdfeuers dem Odysseus gegenüber. Er selbst saß an der Säule mit gesenkten Augen, und wartete auf ihr Wort. Aber Staunen und Zweifel machte die Königin stumm: bald glaubte sie sein Angesicht zu erkennen, bald deuchte es ihr wieder fremd, und ihre Augen ruhten nur auf den Lumpen des Bettlers. Endlich trat Telemach zur Mut¬ ter, und sprach halb lächelnd, halb scheltend: "Böse Mutter, wie kannst du so unempfindlich bleiben? Setze dich doch zum Vater, forsche, frage! Welches andere Weib, wenn ihr Gatte nach so viel Jammer im
Leichen umringt; denn die Freier alle lagen auf dem Boden übereinander geſtreckt. So blutig er anzuſchauen war, er hätte dir doch gefallen, Tochter; jetzt aber liegen die Leichname alle weit draußen vor der Hofpforte; das ganze Haus iſt von mir mit reinigendem Schwefel durchräuchert worden: du kannſt ohne alles Grauen hin¬ abſteigen.“ „Alte, ich kann es immer noch nicht glau¬ ben,“ ſprach Penelope, „es iſt ein Unſterblicher, der die Freier erſchlagen hat. Aber Odyſſeus — ach nein, der iſt ferne, der iſt nicht mehr am Leben!“ „Ungläubiges Herz,“ entgegnete kopfſchüttelnd die Schaffnerin, „ſo will ich dir noch ein untrüglicheres Zeichen angeben. Du kennſt ja die Narbe, die von des Ebers Zahne herrührt; nun damals, als ich auf deinen Befehl dem Bettler die Füße wuſch, da erkannte ich ſie, und wollte dirs auf der Stelle verkündigen: aber er ſchnürte mir die Gurgel zu und litt es nicht.“ „So laß uns denn hinabgehen,“ ſagte Penelope, vor Furcht und Hoffnung zitternd; und ſo ſtiegen ſie beide mit einander hinab in den Saal und ſchritten über die Schwelle. Hier ſetzte ſich Penelope, ohne ein Wort zu reden, im Glanze des Heerdfeuers dem Odyſſeus gegenüber. Er ſelbſt ſaß an der Säule mit geſenkten Augen, und wartete auf ihr Wort. Aber Staunen und Zweifel machte die Königin ſtumm: bald glaubte ſie ſein Angeſicht zu erkennen, bald deuchte es ihr wieder fremd, und ihre Augen ruhten nur auf den Lumpen des Bettlers. Endlich trat Telemach zur Mut¬ ter, und ſprach halb lächelnd, halb ſcheltend: „Böſe Mutter, wie kannſt du ſo unempfindlich bleiben? Setze dich doch zum Vater, forſche, frage! Welches andere Weib, wenn ihr Gatte nach ſo viel Jammer im
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Leichen umringt; denn die Freier alle lagen auf dem
Boden übereinander geſtreckt. So blutig er anzuſchauen
war, er hätte dir doch gefallen, Tochter; jetzt aber
liegen die Leichname alle weit draußen vor der Hofpforte;
das ganze Haus iſt von mir mit reinigendem Schwefel
durchräuchert worden: du kannſt ohne alles Grauen hin¬
abſteigen.“ „Alte, ich kann es immer noch nicht glau¬
ben,“ ſprach Penelope, „es iſt ein Unſterblicher, der die
Freier erſchlagen hat. Aber Odyſſeus — ach nein, der
iſt ferne, der iſt nicht mehr am Leben!“ „Ungläubiges
Herz,“ entgegnete kopfſchüttelnd die Schaffnerin, „ſo will
ich dir noch ein untrüglicheres Zeichen angeben. Du
kennſt ja die Narbe, die von des Ebers Zahne herrührt;
nun damals, als ich auf deinen Befehl dem Bettler die
Füße wuſch, da erkannte ich ſie, und wollte dirs auf
der Stelle verkündigen: aber er ſchnürte mir die Gurgel
zu und litt es nicht.“ „So laß uns denn hinabgehen,“
ſagte Penelope, vor Furcht und Hoffnung zitternd; und
ſo ſtiegen ſie beide mit einander hinab in den Saal und
ſchritten über die Schwelle. Hier ſetzte ſich Penelope,
ohne ein Wort zu reden, im Glanze des Heerdfeuers dem
Odyſſeus gegenüber. Er ſelbſt ſaß an der Säule mit
geſenkten Augen, und wartete auf ihr Wort. Aber
Staunen und Zweifel machte die Königin ſtumm: bald
glaubte ſie ſein Angeſicht zu erkennen, bald deuchte es
ihr wieder fremd, und ihre Augen ruhten nur auf den
Lumpen des Bettlers. Endlich trat Telemach zur Mut¬
ter, und ſprach halb lächelnd, halb ſcheltend: „Böſe
Mutter, wie kannſt du ſo unempfindlich bleiben? Setze
dich doch zum Vater, forſche, frage! Welches andere
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/293>, abgerufen am 22.11.2024.
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