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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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zwanzigsten Jahre heimkehrt, würde sich so geberden!
Hast du denn allein statt des Herzens einen Stein im
Busen?"

"Ach lieber Sohn," erwiederte Penelope, "ich bin
in Staunen verloren; ich kann ihn nicht anreden, ich
kann ihn nicht fragen, ich kann ihm nicht gerade ins
Angesicht schauen! Und doch ist er es wirklich, er ists,
mein Odysseus, er ist zurückgekommen in sein Haus!
Doch werden wir einander schon erkennen, und viel siche¬
rer, denn wir haben geheime Zeichen, die Niemand sonst be¬
kannt sind." Da wandte sich Odysseus mit sanftem Lächeln
an seinen Sohn und sprach: "Laß die Mutter immerhin
mich versuchen; sie verachtet mich, weil ich in so gar
häßliche Lumpen gehüllt bin. Nun wir wollen sehen,
wie wir sie überzeugen. Jetzt aber thut anderes noth.
Wer auch nur einen einzigen Mann aus dem Volke ge¬
tödtet hat, der flieht Haus und Heimath, auch wenn jener
nur wenige Rächer hinterläßt. Wir aber haben die Stützen
des Landes, die edelsten Jünglinge der Insel und der Nach¬
barschaft erschlagen, was thun wir?" "Vater," sagte Te¬
lemach, "da mußt du allein sorgen. Du giltst in aller Welt
für den klügsten Rathgeber." "So will ich euch denn sagen,"
erwiederte Odysseus, "was ich für das Klügste halte. Du,
die Hirten, Alles was im Hause ist, ihr nehmet vor
allen Dingen ein Bad und schmücket euch aufs allerbeste;
auch die Mägde kleiden sich in ihre besten Gewande;
der Sänger aber nimmt die Harfe zur Hand, und
spielt uns Allen einen Reihentanz auf. Wer dann über
die Straße geht, wer in der Nähe wohnt, meint nicht
anders, als das Fest dauere noch fort im Hause, und
so verbreitet sich wohl das Gerücht von der Ermordung

zwanzigſten Jahre heimkehrt, würde ſich ſo geberden!
Haſt du denn allein ſtatt des Herzens einen Stein im
Buſen?“

„Ach lieber Sohn,“ erwiederte Penelope, „ich bin
in Staunen verloren; ich kann ihn nicht anreden, ich
kann ihn nicht fragen, ich kann ihm nicht gerade ins
Angeſicht ſchauen! Und doch iſt er es wirklich, er iſts,
mein Odyſſeus, er iſt zurückgekommen in ſein Haus!
Doch werden wir einander ſchon erkennen, und viel ſiche¬
rer, denn wir haben geheime Zeichen, die Niemand ſonſt be¬
kannt ſind.“ Da wandte ſich Odyſſeus mit ſanftem Lächeln
an ſeinen Sohn und ſprach: „Laß die Mutter immerhin
mich verſuchen; ſie verachtet mich, weil ich in ſo gar
häßliche Lumpen gehüllt bin. Nun wir wollen ſehen,
wie wir ſie überzeugen. Jetzt aber thut anderes noth.
Wer auch nur einen einzigen Mann aus dem Volke ge¬
tödtet hat, der flieht Haus und Heimath, auch wenn jener
nur wenige Rächer hinterläßt. Wir aber haben die Stützen
des Landes, die edelſten Jünglinge der Inſel und der Nach¬
barſchaft erſchlagen, was thun wir?“ „Vater,“ ſagte Te¬
lemach, „da mußt du allein ſorgen. Du giltſt in aller Welt
für den klügſten Rathgeber.“ „So will ich euch denn ſagen,“
erwiederte Odyſſeus, „was ich für das Klügſte halte. Du,
die Hirten, Alles was im Hauſe iſt, ihr nehmet vor
allen Dingen ein Bad und ſchmücket euch aufs allerbeſte;
auch die Mägde kleiden ſich in ihre beſten Gewande;
der Sänger aber nimmt die Harfe zur Hand, und
ſpielt uns Allen einen Reihentanz auf. Wer dann über
die Straße geht, wer in der Nähe wohnt, meint nicht
anders, als das Feſt dauere noch fort im Hauſe, und
ſo verbreitet ſich wohl das Gerücht von der Ermordung

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[272/0294] zwanzigſten Jahre heimkehrt, würde ſich ſo geberden! Haſt du denn allein ſtatt des Herzens einen Stein im Buſen?“ „Ach lieber Sohn,“ erwiederte Penelope, „ich bin in Staunen verloren; ich kann ihn nicht anreden, ich kann ihn nicht fragen, ich kann ihm nicht gerade ins Angeſicht ſchauen! Und doch iſt er es wirklich, er iſts, mein Odyſſeus, er iſt zurückgekommen in ſein Haus! Doch werden wir einander ſchon erkennen, und viel ſiche¬ rer, denn wir haben geheime Zeichen, die Niemand ſonſt be¬ kannt ſind.“ Da wandte ſich Odyſſeus mit ſanftem Lächeln an ſeinen Sohn und ſprach: „Laß die Mutter immerhin mich verſuchen; ſie verachtet mich, weil ich in ſo gar häßliche Lumpen gehüllt bin. Nun wir wollen ſehen, wie wir ſie überzeugen. Jetzt aber thut anderes noth. Wer auch nur einen einzigen Mann aus dem Volke ge¬ tödtet hat, der flieht Haus und Heimath, auch wenn jener nur wenige Rächer hinterläßt. Wir aber haben die Stützen des Landes, die edelſten Jünglinge der Inſel und der Nach¬ barſchaft erſchlagen, was thun wir?“ „Vater,“ ſagte Te¬ lemach, „da mußt du allein ſorgen. Du giltſt in aller Welt für den klügſten Rathgeber.“ „So will ich euch denn ſagen,“ erwiederte Odyſſeus, „was ich für das Klügſte halte. Du, die Hirten, Alles was im Hauſe iſt, ihr nehmet vor allen Dingen ein Bad und ſchmücket euch aufs allerbeſte; auch die Mägde kleiden ſich in ihre beſten Gewande; der Sänger aber nimmt die Harfe zur Hand, und ſpielt uns Allen einen Reihentanz auf. Wer dann über die Straße geht, wer in der Nähe wohnt, meint nicht anders, als das Feſt dauere noch fort im Hauſe, und ſo verbreitet ſich wohl das Gerücht von der Ermordung

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/294>, abgerufen am 15.05.2024.