Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

der Freier nicht eher in der Stadt, als bis wir unsere
Besitzungen auf dem Lande erreicht haben; dann wird
uns ein Gott eingeben, was weiter zu thun ist."

Bald ertönte das ganze Haus von Harfenspiel,
Gesang und Tanz. Auf der Straße sammelten sich die
Einwohner und sprachen zu einander: "Nun ist kein
Zweifel! Penelope hat sich wieder geheirathet, und im
Palaste wird das Vermählungsfest gefeiert. Die böse
Frau, konnte sie nicht erwarten, bis der Gemahl ihrer
Jugend zurückgekehrt wäre?" Endlich gegen Abend
verlief sich das Volk. Odysseus hatte sich in dieser Zeit
gebadet und gesalbt. Athene aber goß ihm jetzt wieder
Anmuth um das Haupt; sein dunkles Haar umringelte
in vollem Wuchse den Scheitel, und einem Unsterblichen
gleich stieg er aus der Badwanne. So trat er in den
Saal und setzte sich wieder in seinen Thronsessel, der
Gemahlin gegenüber. "Seltsame Frau," sprach er,
"die Götter haben dir doch ein fühlloses Herz verliehen,
kein anderes Weib wird so hartnäckig ihren Gatten vei¬
läugnen, wenn er im zwanzigsten Jahre nach so viel
Trübsal heimkehrt. So wende ich mich denn an dich,
Euryklea, Mütterchen, daß du mir irgendwo mein Lager
bereitest; denn diese hier hat ein eisernes Herz in der
Brust!"

"Unbegreiflicher Mann," sprach jetzt Penelope, "nicht
Stolz, nicht Verachtung, kein ähnliches Gefühl hält
mich von dir zurück; ich weiß noch recht gut, wie du
aussahest, als du Ithaka zu Schiffe verließest. Wohl
denn, Euryklea bereite ihm das Lager, außerhalb des
Schlafgemachs, richte es wohl zu mit Vließen, Mänteln
und Teppichen."

Schwab, das klass. Alterthum. III. 18

der Freier nicht eher in der Stadt, als bis wir unſere
Beſitzungen auf dem Lande erreicht haben; dann wird
uns ein Gott eingeben, was weiter zu thun iſt.“

Bald ertönte das ganze Haus von Harfenſpiel,
Geſang und Tanz. Auf der Straße ſammelten ſich die
Einwohner und ſprachen zu einander: „Nun iſt kein
Zweifel! Penelope hat ſich wieder geheirathet, und im
Palaſte wird das Vermählungsfeſt gefeiert. Die böſe
Frau, konnte ſie nicht erwarten, bis der Gemahl ihrer
Jugend zurückgekehrt wäre?“ Endlich gegen Abend
verlief ſich das Volk. Odyſſeus hatte ſich in dieſer Zeit
gebadet und geſalbt. Athene aber goß ihm jetzt wieder
Anmuth um das Haupt; ſein dunkles Haar umringelte
in vollem Wuchſe den Scheitel, und einem Unſterblichen
gleich ſtieg er aus der Badwanne. So trat er in den
Saal und ſetzte ſich wieder in ſeinen Thronſeſſel, der
Gemahlin gegenüber. „Seltſame Frau,“ ſprach er,
„die Götter haben dir doch ein fühlloſes Herz verliehen,
kein anderes Weib wird ſo hartnäckig ihren Gatten vei¬
läugnen, wenn er im zwanzigſten Jahre nach ſo viel
Trübſal heimkehrt. So wende ich mich denn an dich,
Euryklea, Mütterchen, daß du mir irgendwo mein Lager
bereiteſt; denn dieſe hier hat ein eiſernes Herz in der
Bruſt!“

„Unbegreiflicher Mann,“ ſprach jetzt Penelope, „nicht
Stolz, nicht Verachtung, kein ähnliches Gefühl hält
mich von dir zurück; ich weiß noch recht gut, wie du
ausſaheſt, als du Ithaka zu Schiffe verließeſt. Wohl
denn, Euryklea bereite ihm das Lager, außerhalb des
Schlafgemachs, richte es wohl zu mit Vließen, Mänteln
und Teppichen.“

Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 18
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0295" n="273"/>
der Freier nicht eher in der Stadt, als bis wir un&#x017F;ere<lb/>
Be&#x017F;itzungen auf dem Lande erreicht haben; dann wird<lb/>
uns ein Gott eingeben, was weiter zu thun i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Bald ertönte das ganze Haus von Harfen&#x017F;piel,<lb/>
Ge&#x017F;ang und Tanz. Auf der Straße &#x017F;ammelten &#x017F;ich die<lb/>
Einwohner und &#x017F;prachen zu einander: &#x201E;Nun i&#x017F;t kein<lb/>
Zweifel! Penelope hat &#x017F;ich wieder geheirathet, und im<lb/>
Pala&#x017F;te wird das Vermählungsfe&#x017F;t gefeiert. Die bö&#x017F;e<lb/>
Frau, konnte &#x017F;ie nicht erwarten, bis der Gemahl ihrer<lb/>
Jugend zurückgekehrt wäre?&#x201C; Endlich gegen Abend<lb/>
verlief &#x017F;ich das Volk. Ody&#x017F;&#x017F;eus hatte &#x017F;ich in die&#x017F;er Zeit<lb/>
gebadet und ge&#x017F;albt. Athene aber goß ihm jetzt wieder<lb/>
Anmuth um das Haupt; &#x017F;ein dunkles Haar umringelte<lb/>
in vollem Wuch&#x017F;e den Scheitel, und einem Un&#x017F;terblichen<lb/>
gleich &#x017F;tieg er aus der Badwanne. So trat er in den<lb/>
Saal und &#x017F;etzte &#x017F;ich wieder in &#x017F;einen Thron&#x017F;e&#x017F;&#x017F;el, der<lb/>
Gemahlin gegenüber. &#x201E;Selt&#x017F;ame Frau,&#x201C; &#x017F;prach er,<lb/>
&#x201E;die Götter haben dir doch ein fühllo&#x017F;es Herz verliehen,<lb/>
kein anderes Weib wird &#x017F;o hartnäckig ihren Gatten vei¬<lb/>
läugnen, wenn er im zwanzig&#x017F;ten Jahre nach &#x017F;o viel<lb/>
Trüb&#x017F;al heimkehrt. So wende ich mich denn an dich,<lb/>
Euryklea, Mütterchen, daß du mir irgendwo mein Lager<lb/>
bereite&#x017F;t; denn die&#x017F;e hier hat ein ei&#x017F;ernes Herz in der<lb/>
Bru&#x017F;t!&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Unbegreiflicher Mann,&#x201C; &#x017F;prach jetzt Penelope, &#x201E;nicht<lb/>
Stolz, nicht Verachtung, kein ähnliches Gefühl hält<lb/>
mich von dir zurück; ich weiß noch recht gut, wie du<lb/>
aus&#x017F;ahe&#x017F;t, als du Ithaka zu Schiffe verließe&#x017F;t. Wohl<lb/>
denn, Euryklea bereite ihm das Lager, außerhalb des<lb/>
Schlafgemachs, richte es wohl zu mit Vließen, Mänteln<lb/>
und Teppichen.&#x201C;<lb/></p>
            <fw type="sig" place="bottom"><hi rendition="#g">Schwab</hi>, das kla&#x017F;&#x017F;. Alterthum. <hi rendition="#aq">III</hi>. 18<lb/></fw>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[273/0295] der Freier nicht eher in der Stadt, als bis wir unſere Beſitzungen auf dem Lande erreicht haben; dann wird uns ein Gott eingeben, was weiter zu thun iſt.“ Bald ertönte das ganze Haus von Harfenſpiel, Geſang und Tanz. Auf der Straße ſammelten ſich die Einwohner und ſprachen zu einander: „Nun iſt kein Zweifel! Penelope hat ſich wieder geheirathet, und im Palaſte wird das Vermählungsfeſt gefeiert. Die böſe Frau, konnte ſie nicht erwarten, bis der Gemahl ihrer Jugend zurückgekehrt wäre?“ Endlich gegen Abend verlief ſich das Volk. Odyſſeus hatte ſich in dieſer Zeit gebadet und geſalbt. Athene aber goß ihm jetzt wieder Anmuth um das Haupt; ſein dunkles Haar umringelte in vollem Wuchſe den Scheitel, und einem Unſterblichen gleich ſtieg er aus der Badwanne. So trat er in den Saal und ſetzte ſich wieder in ſeinen Thronſeſſel, der Gemahlin gegenüber. „Seltſame Frau,“ ſprach er, „die Götter haben dir doch ein fühlloſes Herz verliehen, kein anderes Weib wird ſo hartnäckig ihren Gatten vei¬ läugnen, wenn er im zwanzigſten Jahre nach ſo viel Trübſal heimkehrt. So wende ich mich denn an dich, Euryklea, Mütterchen, daß du mir irgendwo mein Lager bereiteſt; denn dieſe hier hat ein eiſernes Herz in der Bruſt!“ „Unbegreiflicher Mann,“ ſprach jetzt Penelope, „nicht Stolz, nicht Verachtung, kein ähnliches Gefühl hält mich von dir zurück; ich weiß noch recht gut, wie du ausſaheſt, als du Ithaka zu Schiffe verließeſt. Wohl denn, Euryklea bereite ihm das Lager, außerhalb des Schlafgemachs, richte es wohl zu mit Vließen, Mänteln und Teppichen.“ Schwab, das klaſſ. Alterthum. III. 18

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/295
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/295>, abgerufen am 15.05.2024.