Dießmal gewährte ihm Neptunus, durch die Bitten der Liebesgöttin bewältigt, sicheres Meer und glückliche Fahrt. Zuletzt wurden sie bei dem günstigsten Winde und blaue¬ sten Himmel so sorglos, daß die Ruderer selbst in einer heitern Nacht sich unter ihre Ruderbänke legten und dem tiefsten Schlafe überließen. Der verführerische Gott des Schlafes hatte sich von dem am hellen Nachthimmel funkelnden Gestirnen des Aethers herabgesenkt, und nahte in der Gestalt des Helden Phorbas selbst dem wachsa¬ men Steuermanne Palinurus, der auf dem hohen Ver¬ deck am Steuer saß: "Sohn des Jasius," sprach er leise zu ihm, "siehest du nicht, wie das Meer die Flotte selber treibt und die sanftwehende Luft dich einlädt, end¬ lich einmal auch ein Stündlein dir Ruhe zu gönnen? Lege doch dein Haupt nieder, entziehe die ermüdeten Augen der steten Arbeit, komm, laß mich ein wenig dein Amt für dich übernehmen!" Palinurus vermochte kaum den schläfrigen Blick gegen den Redenden aufzuheben und sprach: "Was sprichst du? Ich soll das tückische Ele¬ ment nicht kennen, wenn es Ruhe heuchelt, und ihm ver¬ trauen? Ich, den so oft der Betrug des heitern Himmels hintergangen hat!" So sprach er und klammerte sich an das Ruder, indem er sich zwang, seine Augen nach den Sternen zu richten. Aber der Gott träufelte ihm in einem Zweige ein paar Tropfen vom Lethe auf seine Schläfe, und plötzlich schloßen sich seine Augen. Da nickte er über das Verdeck, daß es zusammenbrach, der Gott gab ihm einen Stoß und Palinurus stürzte mit samt dem Steuer kopfüber in die Wellen. Der Schlaf erhob sich wie ein Vogel in die Luft. In den Wogen
Dießmal gewährte ihm Neptunus, durch die Bitten der Liebesgöttin bewältigt, ſicheres Meer und glückliche Fahrt. Zuletzt wurden ſie bei dem günſtigſten Winde und blaue¬ ſten Himmel ſo ſorglos, daß die Ruderer ſelbſt in einer heitern Nacht ſich unter ihre Ruderbänke legten und dem tiefſten Schlafe überließen. Der verführeriſche Gott des Schlafes hatte ſich von dem am hellen Nachthimmel funkelnden Geſtirnen des Aethers herabgeſenkt, und nahte in der Geſtalt des Helden Phorbas ſelbſt dem wachſa¬ men Steuermanne Palinurus, der auf dem hohen Ver¬ deck am Steuer ſaß: „Sohn des Jaſius,“ ſprach er leiſe zu ihm, „ſieheſt du nicht, wie das Meer die Flotte ſelber treibt und die ſanftwehende Luft dich einlädt, end¬ lich einmal auch ein Stündlein dir Ruhe zu gönnen? Lege doch dein Haupt nieder, entziehe die ermüdeten Augen der ſteten Arbeit, komm, laß mich ein wenig dein Amt für dich übernehmen!“ Palinurus vermochte kaum den ſchläfrigen Blick gegen den Redenden aufzuheben und ſprach: „Was ſprichſt du? Ich ſoll das tückiſche Ele¬ ment nicht kennen, wenn es Ruhe heuchelt, und ihm ver¬ trauen? Ich, den ſo oft der Betrug des heitern Himmels hintergangen hat!“ So ſprach er und klammerte ſich an das Ruder, indem er ſich zwang, ſeine Augen nach den Sternen zu richten. Aber der Gott träufelte ihm in einem Zweige ein paar Tropfen vom Lethe auf ſeine Schläfe, und plötzlich ſchloßen ſich ſeine Augen. Da nickte er über das Verdeck, daß es zuſammenbrach, der Gott gab ihm einen Stoß und Palinurus ſtürzte mit ſamt dem Steuer kopfüber in die Wellen. Der Schlaf erhob ſich wie ein Vogel in die Luft. In den Wogen
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Dießmal gewährte ihm Neptunus, durch die Bitten der
Liebesgöttin bewältigt, ſicheres Meer und glückliche Fahrt.
Zuletzt wurden ſie bei dem günſtigſten Winde und blaue¬
ſten Himmel ſo ſorglos, daß die Ruderer ſelbſt in einer
heitern Nacht ſich unter ihre Ruderbänke legten und dem
tiefſten Schlafe überließen. Der verführeriſche Gott des
Schlafes hatte ſich von dem am hellen Nachthimmel
funkelnden Geſtirnen des Aethers herabgeſenkt, und nahte
in der Geſtalt des Helden Phorbas ſelbſt dem wachſa¬
men Steuermanne Palinurus, der auf dem hohen Ver¬
deck am Steuer ſaß: „Sohn des Jaſius,“ ſprach er
leiſe zu ihm, „ſieheſt du nicht, wie das Meer die Flotte
ſelber treibt und die ſanftwehende Luft dich einlädt, end¬
lich einmal auch ein Stündlein dir Ruhe zu gönnen? Lege
doch dein Haupt nieder, entziehe die ermüdeten Augen
der ſteten Arbeit, komm, laß mich ein wenig dein Amt
für dich übernehmen!“ Palinurus vermochte kaum den
ſchläfrigen Blick gegen den Redenden aufzuheben und
ſprach: „Was ſprichſt du? Ich ſoll das tückiſche Ele¬
ment nicht kennen, wenn es Ruhe heuchelt, und ihm ver¬
trauen? Ich, den ſo oft der Betrug des heitern Himmels
hintergangen hat!“ So ſprach er und klammerte ſich an
das Ruder, indem er ſich zwang, ſeine Augen nach den
Sternen zu richten. Aber der Gott träufelte ihm in
einem Zweige ein paar Tropfen vom Lethe auf ſeine
Schläfe, und plötzlich ſchloßen ſich ſeine Augen. Da
nickte er über das Verdeck, daß es zuſammenbrach, der
Gott gab ihm einen Stoß und Palinurus ſtürzte mit
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erhob ſich wie ein Vogel in die Luft. In den Wogen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/370>, abgerufen am 22.11.2024.
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