Wenige Minuten waren verflossen, als Aegisthus zurückkehrend in den Pallast trat, und hastig nach den Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die Freudenbotschaft von Orestes Tode gebracht hätten. Die erste, die ihm im Innern des Königshauses begegnete, war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth auch an sie die Frage: "Sprich, du Hochfahrende, wo sind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬ ben?" Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete ruhig: "Nun, sie sind drinnen, ihrer lieben Wirthin zugeführt!" "Und melden sie," fuhr er fort, "auch wahr¬ haftig seinen Untergang?" -- "O ja," erwiederte Elektra, "nicht nur dieß, sondern sie haben ihn selbst bei sich." -- "Das ist das erste erfreuliche Wort, das ich von deinen Lippen höre!" sprach hohnlachend Aegisthus: "doch, siehe, da bringen sie ja den Todten schon!"
Frohlockend ging er dem Orestes und seinen Beglei¬ tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem Innern des Pallastes in die Vorhalle trugen. "O froher Anblick," rief der König und heftete seine gierigen Augen darauf, "hebet schnell die Decke auf; laßt mich ihn des Anstands halber beklagen; es ist ja doch verwandtes Blut!" So sprach er spottend. Orestes aber entgegnete: "Erhebe du selbst die Decke, Herrscher! dir allein ge¬ bührt es, liebevoll zu sehen und zu begrüßen, was unter dieser Hülle liegt!" -- "Wohl, antwortete Aegisthus, aber ruf' auch Klytämnestra herbei, daß sie schaue, was sie gerne sehen wird." -- "Klytämnestra ist nicht ferne," rief Orestes. Indem lüftete der König die Decke, und fuhr mit einem Schrei des Entsetzens zurück: nicht die Leiche des Orestes, wie er gehofft hatte -- der blutige
Wenige Minuten waren verfloſſen, als Aegiſthus zurückkehrend in den Pallaſt trat, und haſtig nach den Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die Freudenbotſchaft von Oreſtes Tode gebracht hätten. Die erſte, die ihm im Innern des Königshauſes begegnete, war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth auch an ſie die Frage: „Sprich, du Hochfahrende, wo ſind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬ ben?“ Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete ruhig: „Nun, ſie ſind drinnen, ihrer lieben Wirthin zugeführt!“ „Und melden ſie,“ fuhr er fort, „auch wahr¬ haftig ſeinen Untergang?“ — „O ja,“ erwiederte Elektra, „nicht nur dieß, ſondern ſie haben ihn ſelbſt bei ſich.“ — „Das iſt das erſte erfreuliche Wort, das ich von deinen Lippen höre!“ ſprach hohnlachend Aegiſthus: „doch, ſiehe, da bringen ſie ja den Todten ſchon!“
Frohlockend ging er dem Oreſtes und ſeinen Beglei¬ tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem Innern des Pallaſtes in die Vorhalle trugen. „O froher Anblick,“ rief der König und heftete ſeine gierigen Augen darauf, „hebet ſchnell die Decke auf; laßt mich ihn des Anſtands halber beklagen; es iſt ja doch verwandtes Blut!“ So ſprach er ſpottend. Oreſtes aber entgegnete: „Erhebe du ſelbſt die Decke, Herrſcher! dir allein ge¬ bührt es, liebevoll zu ſehen und zu begrüßen, was unter dieſer Hülle liegt!“ — „Wohl, antwortete Aegiſthus, aber ruf' auch Klytämneſtra herbei, daß ſie ſchaue, was ſie gerne ſehen wird.“ — „Klytämneſtra iſt nicht ferne,“ rief Oreſtes. Indem lüftete der König die Decke, und fuhr mit einem Schrei des Entſetzens zurück: nicht die Leiche des Oreſtes, wie er gehofft hatte — der blutige
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0050"n="28"/><p>Wenige Minuten waren verfloſſen, als Aegiſthus<lb/>
zurückkehrend in den Pallaſt trat, und haſtig nach den<lb/>
Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die<lb/>
Freudenbotſchaft von Oreſtes Tode gebracht hätten. Die<lb/>
erſte, die ihm im Innern des Königshauſes begegnete,<lb/>
war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth<lb/>
auch an ſie die Frage: „Sprich, du Hochfahrende, wo<lb/>ſind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬<lb/>
ben?“ Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete<lb/>
ruhig: „Nun, ſie ſind drinnen, ihrer lieben Wirthin<lb/>
zugeführt!“„Und melden ſie,“ fuhr er fort, „auch wahr¬<lb/>
haftig ſeinen Untergang?“—„O ja,“ erwiederte Elektra,<lb/>„nicht nur dieß, ſondern ſie haben ihn ſelbſt bei ſich.“—<lb/>„Das iſt das erſte erfreuliche Wort, das ich von deinen<lb/>
Lippen höre!“ſprach hohnlachend Aegiſthus: „doch, ſiehe,<lb/>
da bringen ſie ja den Todten ſchon!“</p><lb/><p>Frohlockend ging er dem Oreſtes und ſeinen Beglei¬<lb/>
tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem<lb/>
Innern des Pallaſtes in die Vorhalle trugen. „O froher<lb/>
Anblick,“ rief der König und heftete ſeine gierigen Augen<lb/>
darauf, „hebet ſchnell die Decke auf; laßt mich ihn des<lb/>
Anſtands halber beklagen; es iſt ja doch verwandtes<lb/>
Blut!“ So ſprach er ſpottend. Oreſtes aber entgegnete:<lb/>„Erhebe du ſelbſt die Decke, Herrſcher! dir allein ge¬<lb/>
bührt es, liebevoll zu ſehen und zu begrüßen, was unter<lb/>
dieſer Hülle liegt!“—„Wohl, antwortete Aegiſthus,<lb/>
aber ruf' auch Klytämneſtra herbei, daß ſie ſchaue, was<lb/>ſie gerne ſehen wird.“—„Klytämneſtra iſt nicht ferne,“<lb/>
rief Oreſtes. Indem lüftete der König die Decke, und<lb/>
fuhr mit einem Schrei des Entſetzens zurück: nicht die<lb/>
Leiche des Oreſtes, wie er gehofft hatte — der blutige<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[28/0050]
Wenige Minuten waren verfloſſen, als Aegiſthus
zurückkehrend in den Pallaſt trat, und haſtig nach den
Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die
Freudenbotſchaft von Oreſtes Tode gebracht hätten. Die
erſte, die ihm im Innern des Königshauſes begegnete,
war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth
auch an ſie die Frage: „Sprich, du Hochfahrende, wo
ſind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬
ben?“ Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete
ruhig: „Nun, ſie ſind drinnen, ihrer lieben Wirthin
zugeführt!“ „Und melden ſie,“ fuhr er fort, „auch wahr¬
haftig ſeinen Untergang?“ — „O ja,“ erwiederte Elektra,
„nicht nur dieß, ſondern ſie haben ihn ſelbſt bei ſich.“ —
„Das iſt das erſte erfreuliche Wort, das ich von deinen
Lippen höre!“ ſprach hohnlachend Aegiſthus: „doch, ſiehe,
da bringen ſie ja den Todten ſchon!“
Frohlockend ging er dem Oreſtes und ſeinen Beglei¬
tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem
Innern des Pallaſtes in die Vorhalle trugen. „O froher
Anblick,“ rief der König und heftete ſeine gierigen Augen
darauf, „hebet ſchnell die Decke auf; laßt mich ihn des
Anſtands halber beklagen; es iſt ja doch verwandtes
Blut!“ So ſprach er ſpottend. Oreſtes aber entgegnete:
„Erhebe du ſelbſt die Decke, Herrſcher! dir allein ge¬
bührt es, liebevoll zu ſehen und zu begrüßen, was unter
dieſer Hülle liegt!“ — „Wohl, antwortete Aegiſthus,
aber ruf' auch Klytämneſtra herbei, daß ſie ſchaue, was
ſie gerne ſehen wird.“ — „Klytämneſtra iſt nicht ferne,“
rief Oreſtes. Indem lüftete der König die Decke, und
fuhr mit einem Schrei des Entſetzens zurück: nicht die
Leiche des Oreſtes, wie er gehofft hatte — der blutige
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/50>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.