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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Wenige Minuten waren verflossen, als Aegisthus
zurückkehrend in den Pallast trat, und hastig nach den
Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die
Freudenbotschaft von Orestes Tode gebracht hätten. Die
erste, die ihm im Innern des Königshauses begegnete,
war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth
auch an sie die Frage: "Sprich, du Hochfahrende, wo
sind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬
ben?" Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete
ruhig: "Nun, sie sind drinnen, ihrer lieben Wirthin
zugeführt!" "Und melden sie," fuhr er fort, "auch wahr¬
haftig seinen Untergang?" -- "O ja," erwiederte Elektra,
"nicht nur dieß, sondern sie haben ihn selbst bei sich." --
"Das ist das erste erfreuliche Wort, das ich von deinen
Lippen höre!" sprach hohnlachend Aegisthus: "doch, siehe,
da bringen sie ja den Todten schon!"

Frohlockend ging er dem Orestes und seinen Beglei¬
tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem
Innern des Pallastes in die Vorhalle trugen. "O froher
Anblick," rief der König und heftete seine gierigen Augen
darauf, "hebet schnell die Decke auf; laßt mich ihn des
Anstands halber beklagen; es ist ja doch verwandtes
Blut!" So sprach er spottend. Orestes aber entgegnete:
"Erhebe du selbst die Decke, Herrscher! dir allein ge¬
bührt es, liebevoll zu sehen und zu begrüßen, was unter
dieser Hülle liegt!" -- "Wohl, antwortete Aegisthus,
aber ruf' auch Klytämnestra herbei, daß sie schaue, was
sie gerne sehen wird." -- "Klytämnestra ist nicht ferne,"
rief Orestes. Indem lüftete der König die Decke, und
fuhr mit einem Schrei des Entsetzens zurück: nicht die
Leiche des Orestes, wie er gehofft hatte -- der blutige

Wenige Minuten waren verfloſſen, als Aegiſthus
zurückkehrend in den Pallaſt trat, und haſtig nach den
Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die
Freudenbotſchaft von Oreſtes Tode gebracht hätten. Die
erſte, die ihm im Innern des Königshauſes begegnete,
war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth
auch an ſie die Frage: „Sprich, du Hochfahrende, wo
ſind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬
ben?“ Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete
ruhig: „Nun, ſie ſind drinnen, ihrer lieben Wirthin
zugeführt!“ „Und melden ſie,“ fuhr er fort, „auch wahr¬
haftig ſeinen Untergang?“ — „O ja,“ erwiederte Elektra,
„nicht nur dieß, ſondern ſie haben ihn ſelbſt bei ſich.“ —
„Das iſt das erſte erfreuliche Wort, das ich von deinen
Lippen höre!“ ſprach hohnlachend Aegiſthus: „doch, ſiehe,
da bringen ſie ja den Todten ſchon!“

Frohlockend ging er dem Oreſtes und ſeinen Beglei¬
tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem
Innern des Pallaſtes in die Vorhalle trugen. „O froher
Anblick,“ rief der König und heftete ſeine gierigen Augen
darauf, „hebet ſchnell die Decke auf; laßt mich ihn des
Anſtands halber beklagen; es iſt ja doch verwandtes
Blut!“ So ſprach er ſpottend. Oreſtes aber entgegnete:
„Erhebe du ſelbſt die Decke, Herrſcher! dir allein ge¬
bührt es, liebevoll zu ſehen und zu begrüßen, was unter
dieſer Hülle liegt!“ — „Wohl, antwortete Aegiſthus,
aber ruf' auch Klytämneſtra herbei, daß ſie ſchaue, was
ſie gerne ſehen wird.“ — „Klytämneſtra iſt nicht ferne,“
rief Oreſtes. Indem lüftete der König die Decke, und
fuhr mit einem Schrei des Entſetzens zurück: nicht die
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[28/0050] Wenige Minuten waren verfloſſen, als Aegiſthus zurückkehrend in den Pallaſt trat, und haſtig nach den Phociern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die Freudenbotſchaft von Oreſtes Tode gebracht hätten. Die erſte, die ihm im Innern des Königshauſes begegnete, war Elektra und er richtete mit höhnendem Uebermuth auch an ſie die Frage: „Sprich, du Hochfahrende, wo ſind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet ha¬ ben?“ Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete ruhig: „Nun, ſie ſind drinnen, ihrer lieben Wirthin zugeführt!“ „Und melden ſie,“ fuhr er fort, „auch wahr¬ haftig ſeinen Untergang?“ — „O ja,“ erwiederte Elektra, „nicht nur dieß, ſondern ſie haben ihn ſelbſt bei ſich.“ — „Das iſt das erſte erfreuliche Wort, das ich von deinen Lippen höre!“ ſprach hohnlachend Aegiſthus: „doch, ſiehe, da bringen ſie ja den Todten ſchon!“ Frohlockend ging er dem Oreſtes und ſeinen Beglei¬ tern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem Innern des Pallaſtes in die Vorhalle trugen. „O froher Anblick,“ rief der König und heftete ſeine gierigen Augen darauf, „hebet ſchnell die Decke auf; laßt mich ihn des Anſtands halber beklagen; es iſt ja doch verwandtes Blut!“ So ſprach er ſpottend. Oreſtes aber entgegnete: „Erhebe du ſelbſt die Decke, Herrſcher! dir allein ge¬ bührt es, liebevoll zu ſehen und zu begrüßen, was unter dieſer Hülle liegt!“ — „Wohl, antwortete Aegiſthus, aber ruf' auch Klytämneſtra herbei, daß ſie ſchaue, was ſie gerne ſehen wird.“ — „Klytämneſtra iſt nicht ferne,“ rief Oreſtes. Indem lüftete der König die Decke, und fuhr mit einem Schrei des Entſetzens zurück: nicht die Leiche des Oreſtes, wie er gehofft hatte — der blutige

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/50>, abgerufen am 24.11.2024.