Griechen zu seyn. Tödtest du Solcher Viele, so büßt Griechenland deine Todesangst nach Gebühr und du bist gerächt dafür, daß sie dich in der Bucht von Aulis um¬ bringen wollten!"
Der Hirte schwieg und erwartete die Befehle der Richterin, die ihm auch wirklich auftrug, die Fremd¬ linge zu holen. Als sich Iphigenia allein sah, sprach sie zu sich selber: O mein Herz, sonst warest du doch immer barmherzig gegen die Fremdlinge, schenktest gerne deinen Stammesgenossen eine Thräne, so oft dir grie¬ chische Männer in die Hände fielen! Nun aber seit der Traum dieser Nacht mir die bittre Ahnung eingeflößt hat, daß mein geliebter Bruder Orestes das Licht der Sonne nicht mehr sieht -- nun sollet ihr Alle, die ihr nahet, mich grausam finden! Sind doch die Unglücklichen den Beglückten immer abhold! O ihr Griechen, die ihr mich wie ein Lamm zum Opferherde schlepptet, wo mein eigener Vater der Schlächter war! O, nie ver¬ gesse ich diese Schreckenszeit! Ja wenn Jupiter mir mit frischen Winden den Mörder Menelaus einmal herbei¬ führen wollte, und die trügerische Helena --"
Sie ward in ihrem Selbstgespräch unterbrochen durch das Herannahen der Gefangenen, die ihr in Fesseln vorgeführt wurden. Als sie dieselben kommen sah, rief sie ihren Führern entgegen: "Lasset den Fremden die Hände frei; die heilige Weihe, die sie empfangen sollen, spricht sie von allen Banden los! Dann gehet in den Tempel und bestellet Alles, was dieser Fall erfordert!" Hierauf wandte sie sich zu den Gefangenen und redete sie an: "Sprechet, wer ist euer Vater, eure Mutter, wer eure Schwester, wenn ihr eine habt, die jetzt eines
Griechen zu ſeyn. Tödteſt du Solcher Viele, ſo büßt Griechenland deine Todesangſt nach Gebühr und du biſt gerächt dafür, daß ſie dich in der Bucht von Aulis um¬ bringen wollten!“
Der Hirte ſchwieg und erwartete die Befehle der Richterin, die ihm auch wirklich auftrug, die Fremd¬ linge zu holen. Als ſich Iphigenia allein ſah, ſprach ſie zu ſich ſelber: O mein Herz, ſonſt wareſt du doch immer barmherzig gegen die Fremdlinge, ſchenktest gerne deinen Stammesgenoſſen eine Thräne, ſo oft dir grie¬ chiſche Männer in die Hände fielen! Nun aber ſeit der Traum dieſer Nacht mir die bittre Ahnung eingeflößt hat, daß mein geliebter Bruder Oreſtes das Licht der Sonne nicht mehr ſieht — nun ſollet ihr Alle, die ihr nahet, mich grauſam finden! Sind doch die Unglücklichen den Beglückten immer abhold! O ihr Griechen, die ihr mich wie ein Lamm zum Opferherde ſchlepptet, wo mein eigener Vater der Schlächter war! O, nie ver¬ geſſe ich dieſe Schreckenszeit! Ja wenn Jupiter mir mit friſchen Winden den Mörder Menelaus einmal herbei¬ führen wollte, und die trügeriſche Helena —“
Sie ward in ihrem Selbſtgeſpräch unterbrochen durch das Herannahen der Gefangenen, die ihr in Feſſeln vorgeführt wurden. Als ſie dieſelben kommen ſah, rief ſie ihren Führern entgegen: „Laſſet den Fremden die Hände frei; die heilige Weihe, die ſie empfangen ſollen, ſpricht ſie von allen Banden los! Dann gehet in den Tempel und beſtellet Alles, was dieſer Fall erfordert!“ Hierauf wandte ſie ſich zu den Gefangenen und redete ſie an: „Sprechet, wer iſt euer Vater, eure Mutter, wer eure Schweſter, wenn ihr eine habt, die jetzt eines
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Griechen zu ſeyn. Tödteſt du Solcher Viele, ſo büßt
Griechenland deine Todesangſt nach Gebühr und du biſt
gerächt dafür, daß ſie dich in der Bucht von Aulis um¬
bringen wollten!“
Der Hirte ſchwieg und erwartete die Befehle der
Richterin, die ihm auch wirklich auftrug, die Fremd¬
linge zu holen. Als ſich Iphigenia allein ſah, ſprach
ſie zu ſich ſelber: O mein Herz, ſonſt wareſt du doch
immer barmherzig gegen die Fremdlinge, ſchenktest gerne
deinen Stammesgenoſſen eine Thräne, ſo oft dir grie¬
chiſche Männer in die Hände fielen! Nun aber ſeit der
Traum dieſer Nacht mir die bittre Ahnung eingeflößt
hat, daß mein geliebter Bruder Oreſtes das Licht der
Sonne nicht mehr ſieht — nun ſollet ihr Alle, die ihr
nahet, mich grauſam finden! Sind doch die Unglücklichen
den Beglückten immer abhold! O ihr Griechen, die ihr
mich wie ein Lamm zum Opferherde ſchlepptet, wo
mein eigener Vater der Schlächter war! O, nie ver¬
geſſe ich dieſe Schreckenszeit! Ja wenn Jupiter mir mit
friſchen Winden den Mörder Menelaus einmal herbei¬
führen wollte, und die trügeriſche Helena —“
Sie ward in ihrem Selbſtgeſpräch unterbrochen
durch das Herannahen der Gefangenen, die ihr in Feſſeln
vorgeführt wurden. Als ſie dieſelben kommen ſah, rief
ſie ihren Führern entgegen: „Laſſet den Fremden die
Hände frei; die heilige Weihe, die ſie empfangen ſollen,
ſpricht ſie von allen Banden los! Dann gehet in den
Tempel und beſtellet Alles, was dieſer Fall erfordert!“
Hierauf wandte ſie ſich zu den Gefangenen und redete
ſie an: „Sprechet, wer iſt euer Vater, eure Mutter,
wer eure Schweſter, wenn ihr eine habt, die jetzt eines
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/72>, abgerufen am 24.11.2024.
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