Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

so schmucken, stattlichen Bruderpaares beraubt, allein
in der Welt stehen soll? Woher kommet ihr, bejam¬
mernswürdige Fremdlinge? Ihr hattet wohl eine weite
Fahrt bis zu diesen Ufern. Doch bereitet euch zu einer
weiteren; denn jetzt geht eure Fahrt hinunter ins Schat¬
tenreich!"

Ihr erwiederte Orestes: "Wer du auch immer seyest,
o Weib, was beklagst du uns? Wer das Henkerbeil
schwingt, dem steht es übel an, sein Opfer zu trösten,
ehe er den Streich führt; und wem der Tod ohne Hoff¬
nung droht, dem will auch das Jammern nicht geziemen!
Keine Thränen, weder von dir noch von uns! Laß das
Geschick ergehen!"

"Welcher von euch beiden ist Pylades? das lasset
mich zuerst wissen!" fragte nun die Priesterin. "Dieser
hier!" sprach Orestes, indem er auf seinen Freund hin¬
deutete. -- "Seyd ihr Brüder?" -- "Durch Liebe,"
antwortete Orestes, "nicht durch Geburt!" -- "Wie hei¬
ßest denn aber du?" "Nenne mich einen Elenden,"
erwiederte er, "am besten ists, ich sterbe namenlos; dann
werd' ich doch nicht zum Gespötte!" -- Die Priesterin
verdroß sein Trotz und sie drang in ihn, ihm wenigstens
seine Vaterstadt zu nennen. Als der Name Argos im
Ohr klang, zuckte es ihr durch die Glieder und sie rief
heftig: "Bei den Göttern, Freund, stammst du wirklich
dorther?" -- "Ja," sprach Orestes, "von Mycene, wo
mein Haus einst beglückt war." -- "Wenn du von Argos
kommst, Fremdling," fuhr Iphigenia mit gespannter Er¬
wartung fort, "so bringst du wohl auch Nachrichten von
Troja mit? Ists wahr, daß es spurlos vertilgt ist? Kam
Helena zurück?" -- "Ja, beides ist so, wie du fragst!"

4 *

ſo ſchmucken, ſtattlichen Bruderpaares beraubt, allein
in der Welt ſtehen ſoll? Woher kommet ihr, bejam¬
mernswürdige Fremdlinge? Ihr hattet wohl eine weite
Fahrt bis zu dieſen Ufern. Doch bereitet euch zu einer
weiteren; denn jetzt geht eure Fahrt hinunter ins Schat¬
tenreich!“

Ihr erwiederte Oreſtes: „Wer du auch immer ſeyeſt,
o Weib, was beklagſt du uns? Wer das Henkerbeil
ſchwingt, dem ſteht es übel an, ſein Opfer zu tröſten,
ehe er den Streich führt; und wem der Tod ohne Hoff¬
nung droht, dem will auch das Jammern nicht geziemen!
Keine Thränen, weder von dir noch von uns! Laß das
Geſchick ergehen!“

„Welcher von euch beiden iſt Pylades? das laſſet
mich zuerſt wiſſen!“ fragte nun die Prieſterin. „Dieſer
hier!“ ſprach Oreſtes, indem er auf ſeinen Freund hin¬
deutete. — „Seyd ihr Brüder?“ — „Durch Liebe,“
antwortete Oreſtes, „nicht durch Geburt!“ — „Wie hei¬
ßeſt denn aber du?“ „Nenne mich einen Elenden,“
erwiederte er, „am beſten iſts, ich ſterbe namenlos; dann
werd' ich doch nicht zum Geſpötte!“ — Die Prieſterin
verdroß ſein Trotz und ſie drang in ihn, ihm wenigſtens
ſeine Vaterſtadt zu nennen. Als der Name Argos im
Ohr klang, zuckte es ihr durch die Glieder und ſie rief
heftig: „Bei den Göttern, Freund, ſtammſt du wirklich
dorther?“ — „Ja,“ ſprach Oreſtes, „von Mycene, wo
mein Haus einſt beglückt war.“ — „Wenn du von Argos
kommſt, Fremdling,“ fuhr Iphigenia mit geſpannter Er¬
wartung fort, „ſo bringſt du wohl auch Nachrichten von
Troja mit? Iſts wahr, daß es ſpurlos vertilgt iſt? Kam
Helena zurück?“ — „Ja, beides iſt ſo, wie du fragſt!“

4 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0073" n="51"/>
&#x017F;o &#x017F;chmucken, &#x017F;tattlichen Bruderpaares beraubt, allein<lb/>
in der Welt &#x017F;tehen &#x017F;oll? Woher kommet ihr, bejam¬<lb/>
mernswürdige Fremdlinge? Ihr hattet wohl eine weite<lb/>
Fahrt bis zu die&#x017F;en Ufern. Doch bereitet euch zu einer<lb/>
weiteren; denn jetzt geht eure Fahrt hinunter ins Schat¬<lb/>
tenreich!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Ihr erwiederte Ore&#x017F;tes: &#x201E;Wer du auch immer &#x017F;eye&#x017F;t,<lb/>
o Weib, was beklag&#x017F;t du uns? Wer das Henkerbeil<lb/>
&#x017F;chwingt, dem &#x017F;teht es übel an, &#x017F;ein Opfer zu trö&#x017F;ten,<lb/>
ehe er den Streich führt; und wem der Tod ohne Hoff¬<lb/>
nung droht, dem will auch das Jammern nicht geziemen!<lb/>
Keine Thränen, weder von dir noch von uns! Laß das<lb/>
Ge&#x017F;chick ergehen!&#x201C;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Welcher von euch beiden i&#x017F;t Pylades? das la&#x017F;&#x017F;et<lb/>
mich zuer&#x017F;t wi&#x017F;&#x017F;en!&#x201C; fragte nun die Prie&#x017F;terin. &#x201E;Die&#x017F;er<lb/>
hier!&#x201C; &#x017F;prach Ore&#x017F;tes, indem er auf &#x017F;einen Freund hin¬<lb/>
deutete. &#x2014; &#x201E;Seyd ihr Brüder?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Durch Liebe,&#x201C;<lb/>
antwortete Ore&#x017F;tes, &#x201E;nicht durch Geburt!&#x201C; &#x2014; &#x201E;Wie hei¬<lb/>
ße&#x017F;t denn aber du?&#x201C; &#x201E;Nenne mich einen Elenden,&#x201C;<lb/>
erwiederte er, &#x201E;am be&#x017F;ten i&#x017F;ts, ich &#x017F;terbe namenlos; dann<lb/>
werd' ich doch nicht zum Ge&#x017F;pötte!&#x201C; &#x2014; Die Prie&#x017F;terin<lb/>
verdroß &#x017F;ein Trotz und &#x017F;ie drang in ihn, ihm wenig&#x017F;tens<lb/>
&#x017F;eine Vater&#x017F;tadt zu nennen. Als der Name Argos im<lb/>
Ohr klang, zuckte es ihr durch die Glieder und &#x017F;ie rief<lb/>
heftig: &#x201E;Bei den Göttern, Freund, &#x017F;tamm&#x017F;t du wirklich<lb/>
dorther?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Ja,&#x201C; &#x017F;prach Ore&#x017F;tes, &#x201E;von Mycene, wo<lb/>
mein Haus ein&#x017F;t beglückt war.&#x201C; &#x2014; &#x201E;Wenn du von Argos<lb/>
komm&#x017F;t, Fremdling,&#x201C; fuhr Iphigenia mit ge&#x017F;pannter Er¬<lb/>
wartung fort, &#x201E;&#x017F;o bring&#x017F;t du wohl auch Nachrichten von<lb/>
Troja mit? I&#x017F;ts wahr, daß es &#x017F;purlos vertilgt i&#x017F;t? Kam<lb/>
Helena zurück?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Ja, beides i&#x017F;t &#x017F;o, wie du frag&#x017F;t!&#x201C;<lb/>
<fw type="sig" place="bottom">4 *<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0073] ſo ſchmucken, ſtattlichen Bruderpaares beraubt, allein in der Welt ſtehen ſoll? Woher kommet ihr, bejam¬ mernswürdige Fremdlinge? Ihr hattet wohl eine weite Fahrt bis zu dieſen Ufern. Doch bereitet euch zu einer weiteren; denn jetzt geht eure Fahrt hinunter ins Schat¬ tenreich!“ Ihr erwiederte Oreſtes: „Wer du auch immer ſeyeſt, o Weib, was beklagſt du uns? Wer das Henkerbeil ſchwingt, dem ſteht es übel an, ſein Opfer zu tröſten, ehe er den Streich führt; und wem der Tod ohne Hoff¬ nung droht, dem will auch das Jammern nicht geziemen! Keine Thränen, weder von dir noch von uns! Laß das Geſchick ergehen!“ „Welcher von euch beiden iſt Pylades? das laſſet mich zuerſt wiſſen!“ fragte nun die Prieſterin. „Dieſer hier!“ ſprach Oreſtes, indem er auf ſeinen Freund hin¬ deutete. — „Seyd ihr Brüder?“ — „Durch Liebe,“ antwortete Oreſtes, „nicht durch Geburt!“ — „Wie hei¬ ßeſt denn aber du?“ „Nenne mich einen Elenden,“ erwiederte er, „am beſten iſts, ich ſterbe namenlos; dann werd' ich doch nicht zum Geſpötte!“ — Die Prieſterin verdroß ſein Trotz und ſie drang in ihn, ihm wenigſtens ſeine Vaterſtadt zu nennen. Als der Name Argos im Ohr klang, zuckte es ihr durch die Glieder und ſie rief heftig: „Bei den Göttern, Freund, ſtammſt du wirklich dorther?“ — „Ja,“ ſprach Oreſtes, „von Mycene, wo mein Haus einſt beglückt war.“ — „Wenn du von Argos kommſt, Fremdling,“ fuhr Iphigenia mit geſpannter Er¬ wartung fort, „ſo bringſt du wohl auch Nachrichten von Troja mit? Iſts wahr, daß es ſpurlos vertilgt iſt? Kam Helena zurück?“ — „Ja, beides iſt ſo, wie du fragſt!“ 4 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/73
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/73>, abgerufen am 16.05.2024.