-- "Wie gehts dem Oberfeldherrn? Agamemnon, deucht mich, hieß er, der Sohn des Atreus?" -- Orestes schau¬ derte bei dieser Frage: "Ich weiß nicht," rief er mit abgewandtem Haupte. "Sprich mir von diesem Gegen¬ stande nicht, o Weib!" Aber Iphigenia bat ihn mit so wei¬ cher flehender Stimme um Nachricht, daß er nicht zu wider¬ stehen vermochte. "Er ist todt," sprach er, "durch die Gemahlin starb er grausenhaften Todes!" Ein Schrei des Entsetzens entfuhr der Priesterin Diana's. Doch faßte sie sich und fragte weiter: "Sprich nur das noch! lebt des armen Mannes Weib?" -- "Nicht mehr," war die Antwort, "ihr eigener Sohn hat ihr den Tod ge¬ geben, er übernahm das Rächeramt für seinen ermordeten Vater: doch gehet es ihm schlimm dafür!" -- "Lebt noch ein anderes Kind Agamemnons?" -- "Zwei Töch¬ ter, Elektra und Chrysothemis." -- "Und was weiß man von der Aeltesten, die geschlachtet ward?" -- "Daß eine Hindin an ihrer Statt starb, sie selbst aber spurlos verschwunden ist. Auch sie ist wohl schon lange todt!" -- "Lebt der Sohn des Gemordeten noch?" fragte die Jungfrau ängstlich. "Ja," sprach Orestes, "doch im Elend, vertrieben, überall und nirgends!" -- "O trü¬ gerische Träume, weichet!" seufzte Iphigenia vor sich hin. Dann hieß sie die Diener sich entfernen, und als sie mit den Griechen allein war, sprach sie flüsternd zu ihnen! "Vernehmet etwas, Freunde, das zu eurem und meinem Vortheile dient, wenn wir einig sind. Ich will dich retten, Jüngling, wenn du mir ein Briefblatt in deine und meine Heimath Mycene, an die Meinigen gerichtet, nehmen willst!" -- "Ich mag mich nicht retten, ohne den Freund," antwortete Orestes; "ich bin ein
— „Wie gehts dem Oberfeldherrn? Agamemnon, deucht mich, hieß er, der Sohn des Atreus?“ — Oreſtes ſchau¬ derte bei dieſer Frage: „Ich weiß nicht,“ rief er mit abgewandtem Haupte. „Sprich mir von dieſem Gegen¬ ſtande nicht, o Weib!“ Aber Iphigenia bat ihn mit ſo wei¬ cher flehender Stimme um Nachricht, daß er nicht zu wider¬ ſtehen vermochte. „Er iſt todt,“ ſprach er, „durch die Gemahlin ſtarb er grauſenhaften Todes!“ Ein Schrei des Entſetzens entfuhr der Prieſterin Diana's. Doch faßte ſie ſich und fragte weiter: „Sprich nur das noch! lebt des armen Mannes Weib?„ — „Nicht mehr,“ war die Antwort, „ihr eigener Sohn hat ihr den Tod ge¬ geben, er übernahm das Rächeramt für ſeinen ermordeten Vater: doch gehet es ihm ſchlimm dafür!“ — „Lebt noch ein anderes Kind Agamemnons?“ — „Zwei Töch¬ ter, Elektra und Chryſothemis.“ — „Und was weiß man von der Aelteſten, die geſchlachtet ward?“ — „Daß eine Hindin an ihrer Statt ſtarb, ſie ſelbſt aber ſpurlos verſchwunden iſt. Auch ſie iſt wohl ſchon lange todt!“ — „Lebt der Sohn des Gemordeten noch?“ fragte die Jungfrau ängſtlich. „Ja,“ ſprach Oreſtes, „doch im Elend, vertrieben, überall und nirgends!“ — „O trü¬ geriſche Träume, weichet!“ ſeufzte Iphigenia vor ſich hin. Dann hieß ſie die Diener ſich entfernen, und als ſie mit den Griechen allein war, ſprach ſie flüſternd zu ihnen! „Vernehmet etwas, Freunde, das zu eurem und meinem Vortheile dient, wenn wir einig ſind. Ich will dich retten, Jüngling, wenn du mir ein Briefblatt in deine und meine Heimath Mycene, an die Meinigen gerichtet, nehmen willſt!“ — „Ich mag mich nicht retten, ohne den Freund,“ antwortete Oreſtes; „ich bin ein
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— „Wie gehts dem Oberfeldherrn? Agamemnon, deucht
mich, hieß er, der Sohn des Atreus?“ — Oreſtes ſchau¬
derte bei dieſer Frage: „Ich weiß nicht,“ rief er mit
abgewandtem Haupte. „Sprich mir von dieſem Gegen¬
ſtande nicht, o Weib!“ Aber Iphigenia bat ihn mit ſo wei¬
cher flehender Stimme um Nachricht, daß er nicht zu wider¬
ſtehen vermochte. „Er iſt todt,“ ſprach er, „durch die
Gemahlin ſtarb er grauſenhaften Todes!“ Ein Schrei
des Entſetzens entfuhr der Prieſterin Diana's. Doch
faßte ſie ſich und fragte weiter: „Sprich nur das noch!
lebt des armen Mannes Weib?„ — „Nicht mehr,“ war
die Antwort, „ihr eigener Sohn hat ihr den Tod ge¬
geben, er übernahm das Rächeramt für ſeinen ermordeten
Vater: doch gehet es ihm ſchlimm dafür!“ — „Lebt
noch ein anderes Kind Agamemnons?“ — „Zwei Töch¬
ter, Elektra und Chryſothemis.“ — „Und was weiß
man von der Aelteſten, die geſchlachtet ward?“ — „Daß
eine Hindin an ihrer Statt ſtarb, ſie ſelbſt aber ſpurlos
verſchwunden iſt. Auch ſie iſt wohl ſchon lange todt!“
— „Lebt der Sohn des Gemordeten noch?“ fragte die
Jungfrau ängſtlich. „Ja,“ ſprach Oreſtes, „doch im
Elend, vertrieben, überall und nirgends!“ — „O trü¬
geriſche Träume, weichet!“ ſeufzte Iphigenia vor ſich
hin. Dann hieß ſie die Diener ſich entfernen, und als
ſie mit den Griechen allein war, ſprach ſie flüſternd zu
ihnen! „Vernehmet etwas, Freunde, das zu eurem und
meinem Vortheile dient, wenn wir einig ſind. Ich will
dich retten, Jüngling, wenn du mir ein Briefblatt in
deine und meine Heimath Mycene, an die Meinigen
gerichtet, nehmen willſt!“ — „Ich mag mich nicht retten,
ohne den Freund,“ antwortete Oreſtes; „ich bin ein
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/74>, abgerufen am 24.11.2024.
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