Unglücklicher, von dem er nicht gewichen ist. Wie sollte ich Ihn in der Todesnoth verlassen?" -- "Edler, brü¬ derlich gesinnter Freund!" rief die Jungfrau. "O wäre mein Bruder, wie du! denn wisset, Fremdlinge, auch ich habe einen Bruder, nur daß er ferne aus meinen Augen ist. -- Aber beide kann ich euch nicht entlassen: das duldet der König nimmermehr. Stirb denn du, und laß deinen Pylades ziehen; welcher von euch mir das Blatt besorgt -- mir gilt es gleich!" -- "Wer wird mich opfern?" fragte Orestes. "Ich selbst; auf Befehl der Göttin," antwortete Iphigenia. -- "Wie, du, das schwache Mädchen, schwingst auf Männer dein Schwert?" -- "Nein, ich benetze nur mit dem Weihwasser deine Locken! Die Tempeldiener sinds, die das Schlachtbeil schwingen! Dein verbranntes Gebein empfängt sodann ein Felsenschild." -- "O daß mich meine Schwester be¬ stattete," seufzte Orestes. -- "Das ist freilich nicht möglich," sagte die Jungfrau gerührt, "wenn deine Schwester im fernen Argos weilt. Doch, lieber Lands¬ mann, sorge nicht, ich will deinen Scheiterhaufen mit Oele löschen, und mit Honig beträufeln, und deine Gruft ausschmücken, als wäre ich deine leibliche Schwester! Jetzt aber laß mich gehen, die Zuschrift an die Meinen zu bestellen!"
Wie die Jünglinge allein, nur in der Ferne von Dienern bewacht waren, hielt sich Pylades nicht länger: "Nein," rief er, "bei deinem Tode leben kann ich nicht! diese Schmach verlange nicht von mir. Ich muß dir in den Tod folgen, wie ich dir aufs weite Meer gefolgt bin. Phocis und Argos würden mich der Feigheit zeihen. Alle Welt -- denn böse ist die Welt -- würde sagen,
Unglücklicher, von dem er nicht gewichen iſt. Wie ſollte ich Ihn in der Todesnoth verlaſſen?“ — „Edler, brü¬ derlich geſinnter Freund!“ rief die Jungfrau. „O wäre mein Bruder, wie du! denn wiſſet, Fremdlinge, auch ich habe einen Bruder, nur daß er ferne aus meinen Augen iſt. — Aber beide kann ich euch nicht entlaſſen: das duldet der König nimmermehr. Stirb denn du, und laß deinen Pylades ziehen; welcher von euch mir das Blatt beſorgt — mir gilt es gleich!“ — „Wer wird mich opfern?“ fragte Oreſtes. „Ich ſelbſt; auf Befehl der Göttin,“ antwortete Iphigenia. — „Wie, du, das ſchwache Mädchen, ſchwingſt auf Männer dein Schwert?“ — „Nein, ich benetze nur mit dem Weihwaſſer deine Locken! Die Tempeldiener ſinds, die das Schlachtbeil ſchwingen! Dein verbranntes Gebein empfängt ſodann ein Felſenſchild.“ — „O daß mich meine Schweſter be¬ ſtattete,“ ſeufzte Oreſtes. — „Das iſt freilich nicht möglich,“ ſagte die Jungfrau gerührt, „wenn deine Schweſter im fernen Argos weilt. Doch, lieber Lands¬ mann, ſorge nicht, ich will deinen Scheiterhaufen mit Oele löſchen, und mit Honig beträufeln, und deine Gruft ausſchmücken, als wäre ich deine leibliche Schweſter! Jetzt aber laß mich gehen, die Zuſchrift an die Meinen zu beſtellen!“
Wie die Jünglinge allein, nur in der Ferne von Dienern bewacht waren, hielt ſich Pylades nicht länger: „Nein,“ rief er, „bei deinem Tode leben kann ich nicht! dieſe Schmach verlange nicht von mir. Ich muß dir in den Tod folgen, wie ich dir aufs weite Meer gefolgt bin. Phocis und Argos würden mich der Feigheit zeihen. Alle Welt — denn böſe iſt die Welt — würde ſagen,
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Unglücklicher, von dem er nicht gewichen iſt. Wie ſollte
ich Ihn in der Todesnoth verlaſſen?“ — „Edler, brü¬
derlich geſinnter Freund!“ rief die Jungfrau. „O wäre
mein Bruder, wie du! denn wiſſet, Fremdlinge, auch
ich habe einen Bruder, nur daß er ferne aus meinen
Augen iſt. — Aber beide kann ich euch nicht entlaſſen:
das duldet der König nimmermehr. Stirb denn du, und
laß deinen Pylades ziehen; welcher von euch mir das
Blatt beſorgt — mir gilt es gleich!“ — „Wer wird
mich opfern?“ fragte Oreſtes. „Ich ſelbſt; auf Befehl
der Göttin,“ antwortete Iphigenia. — „Wie, du, das
ſchwache Mädchen, ſchwingſt auf Männer dein Schwert?“
— „Nein, ich benetze nur mit dem Weihwaſſer deine
Locken! Die Tempeldiener ſinds, die das Schlachtbeil
ſchwingen! Dein verbranntes Gebein empfängt ſodann
ein Felſenſchild.“ — „O daß mich meine Schweſter be¬
ſtattete,“ ſeufzte Oreſtes. — „Das iſt freilich nicht
möglich,“ ſagte die Jungfrau gerührt, „wenn deine
Schweſter im fernen Argos weilt. Doch, lieber Lands¬
mann, ſorge nicht, ich will deinen Scheiterhaufen mit
Oele löſchen, und mit Honig beträufeln, und deine Gruft
ausſchmücken, als wäre ich deine leibliche Schweſter!
Jetzt aber laß mich gehen, die Zuſchrift an die Meinen
zu beſtellen!“
Wie die Jünglinge allein, nur in der Ferne von
Dienern bewacht waren, hielt ſich Pylades nicht länger:
„Nein,“ rief er, „bei deinem Tode leben kann ich nicht!
dieſe Schmach verlange nicht von mir. Ich muß dir
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bin. Phocis und Argos würden mich der Feigheit zeihen.
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/75>, abgerufen am 24.11.2024.
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