Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

sie mit zwo Dienerinnen die Stufen ihrer hohen Woh¬
nung herab und trat zu den Freiern in den Saal ein,
doch in einen dichten Schleier gehüllt; eine der Mägde
stand ihr zur Seite, und weinend begann sie, zu Phemius
dem Sänger gewendet: "Du weißest ja sonst viele herz¬
erquickende Lieder, guter Sänger! Erfreue sie damit;
aber diesen Jammergesang, der mir beständig das Herz
im Busen quält, den laß ruhen! Gedenke ich doch auch
ohne das beständig des Manne, dessen Ruhm durch
ganz Griechenland reicht, und der noch immer nicht
heimgekehrt ist!" -- Aber Telemach redete freundlich zu
der Mutter: "Tadle doch den lieblichen Sänger nicht,
daß er uns mit dem erfreut, was ihm gerade das Herz
entzündet. Nicht den Sängern, Jupitern müssen wir
Schuld geben, der ihnen die Lieder eingiebt, und sie
begeistert, wie er will! Laß ihn deßwegen immerhin das
Leid der Danaer besingen! Odysseus ist es ja nicht allein,
der den Tag der Wiederkehr verlor; wie viel andere
Griechen sind untergegangen! Du selbst, liebe Mutter,
kehr' ins Frauengemach zurück, besorge dort deine Ge¬
schäfte, die Spindel und den Webestuhl, und leite das
Tagwerk deiner Frauen! Das Wort gebührt den Män¬
nern und vor allem mir, der ich die Herrschaft im Hause
zu führen habe."

Penelope verwunderte sich über die verständige und
bestimmte Rede des Knaben, den sie früher nie so
hatte sprechen hören, und der auf einmal zum Jüngling
gereift schien; sie kehrte nach dem Söller zurück und be¬
weinte dort ihren Gemahl in der Einsamkeit. Den Freiern
aber, die zu toben und beim Becher Muthwill zu treiben
anfingen, trat Telemachus auch entgegen, und rief in

ſie mit zwo Dienerinnen die Stufen ihrer hohen Woh¬
nung herab und trat zu den Freiern in den Saal ein,
doch in einen dichten Schleier gehüllt; eine der Mägde
ſtand ihr zur Seite, und weinend begann ſie, zu Phemius
dem Sänger gewendet: „Du weißeſt ja ſonſt viele herz¬
erquickende Lieder, guter Sänger! Erfreue ſie damit;
aber dieſen Jammergeſang, der mir beſtändig das Herz
im Buſen quält, den laß ruhen! Gedenke ich doch auch
ohne das beſtändig des Manne, deſſen Ruhm durch
ganz Griechenland reicht, und der noch immer nicht
heimgekehrt iſt!“ — Aber Telemach redete freundlich zu
der Mutter: „Tadle doch den lieblichen Sänger nicht,
daß er uns mit dem erfreut, was ihm gerade das Herz
entzündet. Nicht den Sängern, Jupitern müſſen wir
Schuld geben, der ihnen die Lieder eingiebt, und ſie
begeiſtert, wie er will! Laß ihn deßwegen immerhin das
Leid der Danaer beſingen! Odyſſeus iſt es ja nicht allein,
der den Tag der Wiederkehr verlor; wie viel andere
Griechen ſind untergegangen! Du ſelbſt, liebe Mutter,
kehr' ins Frauengemach zurück, beſorge dort deine Ge¬
ſchäfte, die Spindel und den Webeſtuhl, und leite das
Tagwerk deiner Frauen! Das Wort gebührt den Män¬
nern und vor allem mir, der ich die Herrſchaft im Hauſe
zu führen habe.“

Penelope verwunderte ſich über die verſtändige und
beſtimmte Rede des Knaben, den ſie früher nie ſo
hatte ſprechen hören, und der auf einmal zum Jüngling
gereift ſchien; ſie kehrte nach dem Söller zurück und be¬
weinte dort ihren Gemahl in der Einſamkeit. Den Freiern
aber, die zu toben und beim Becher Muthwill zu treiben
anfingen, trat Telemachus auch entgegen, und rief in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0095" n="73"/>
&#x017F;ie mit zwo Dienerinnen die Stufen ihrer hohen Woh¬<lb/>
nung herab und trat zu den Freiern in den Saal ein,<lb/>
doch in einen dichten Schleier gehüllt; eine der Mägde<lb/>
&#x017F;tand ihr zur Seite, und weinend begann &#x017F;ie, zu Phemius<lb/>
dem Sänger gewendet: &#x201E;Du weiße&#x017F;t ja &#x017F;on&#x017F;t viele herz¬<lb/>
erquickende Lieder, guter Sänger! Erfreue &#x017F;ie damit;<lb/>
aber die&#x017F;en Jammerge&#x017F;ang, der mir be&#x017F;tändig das Herz<lb/>
im Bu&#x017F;en quält, den laß ruhen! Gedenke ich doch auch<lb/>
ohne das be&#x017F;tändig des Manne, de&#x017F;&#x017F;en Ruhm durch<lb/>
ganz Griechenland reicht, und der noch immer nicht<lb/>
heimgekehrt i&#x017F;t!&#x201C; &#x2014; Aber Telemach redete freundlich zu<lb/>
der Mutter: &#x201E;Tadle doch den lieblichen Sänger nicht,<lb/>
daß er uns mit dem erfreut, was ihm gerade das Herz<lb/>
entzündet. Nicht den Sängern, Jupitern mü&#x017F;&#x017F;en wir<lb/>
Schuld geben, der ihnen die Lieder eingiebt, und &#x017F;ie<lb/>
begei&#x017F;tert, wie er will! Laß ihn deßwegen immerhin das<lb/>
Leid der Danaer be&#x017F;ingen! Ody&#x017F;&#x017F;eus i&#x017F;t es ja nicht allein,<lb/>
der den Tag der Wiederkehr verlor; wie viel andere<lb/>
Griechen &#x017F;ind untergegangen! Du &#x017F;elb&#x017F;t, liebe Mutter,<lb/>
kehr' ins Frauengemach zurück, be&#x017F;orge dort deine Ge¬<lb/>
&#x017F;chäfte, die Spindel und den Webe&#x017F;tuhl, und leite das<lb/>
Tagwerk deiner Frauen! Das Wort gebührt den Män¬<lb/>
nern und vor allem mir, der ich die Herr&#x017F;chaft im Hau&#x017F;e<lb/>
zu führen habe.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Penelope verwunderte &#x017F;ich über die ver&#x017F;tändige und<lb/>
be&#x017F;timmte Rede des Knaben, den &#x017F;ie früher nie &#x017F;o<lb/>
hatte &#x017F;prechen hören, und der auf einmal zum Jüngling<lb/>
gereift &#x017F;chien; &#x017F;ie kehrte nach dem Söller zurück und be¬<lb/>
weinte dort ihren Gemahl in der Ein&#x017F;amkeit. Den Freiern<lb/>
aber, die zu toben und beim Becher Muthwill zu treiben<lb/>
anfingen, trat Telemachus auch entgegen, und rief in<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0095] ſie mit zwo Dienerinnen die Stufen ihrer hohen Woh¬ nung herab und trat zu den Freiern in den Saal ein, doch in einen dichten Schleier gehüllt; eine der Mägde ſtand ihr zur Seite, und weinend begann ſie, zu Phemius dem Sänger gewendet: „Du weißeſt ja ſonſt viele herz¬ erquickende Lieder, guter Sänger! Erfreue ſie damit; aber dieſen Jammergeſang, der mir beſtändig das Herz im Buſen quält, den laß ruhen! Gedenke ich doch auch ohne das beſtändig des Manne, deſſen Ruhm durch ganz Griechenland reicht, und der noch immer nicht heimgekehrt iſt!“ — Aber Telemach redete freundlich zu der Mutter: „Tadle doch den lieblichen Sänger nicht, daß er uns mit dem erfreut, was ihm gerade das Herz entzündet. Nicht den Sängern, Jupitern müſſen wir Schuld geben, der ihnen die Lieder eingiebt, und ſie begeiſtert, wie er will! Laß ihn deßwegen immerhin das Leid der Danaer beſingen! Odyſſeus iſt es ja nicht allein, der den Tag der Wiederkehr verlor; wie viel andere Griechen ſind untergegangen! Du ſelbſt, liebe Mutter, kehr' ins Frauengemach zurück, beſorge dort deine Ge¬ ſchäfte, die Spindel und den Webeſtuhl, und leite das Tagwerk deiner Frauen! Das Wort gebührt den Män¬ nern und vor allem mir, der ich die Herrſchaft im Hauſe zu führen habe.“ Penelope verwunderte ſich über die verſtändige und beſtimmte Rede des Knaben, den ſie früher nie ſo hatte ſprechen hören, und der auf einmal zum Jüngling gereift ſchien; ſie kehrte nach dem Söller zurück und be¬ weinte dort ihren Gemahl in der Einſamkeit. Den Freiern aber, die zu toben und beim Becher Muthwill zu treiben anfingen, trat Telemachus auch entgegen, und rief in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/95
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/95>, abgerufen am 16.05.2024.