Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.Anhang. Anatolische Fragmente. sie gerade stolpern ... So kehren wir diesem unheimlichenOrte den Rücken und wandern mitten zwischen blühenden Mohn- feldern, welche das geschätzteste Opium Kleinasiens liefern 1, hin- durch gegen Norden zurück, um in Kjutachia, dem einstigen Sitze des Beglerbegs von Anatolien und somit die Hauptstadt des Landes, zu rasten. Die Stadt ist das uralte phrygische Cotyaium, die Heimat des Fabulisten Aesop. In osmanischen Besitz ist sie trotz ihrer Lage inmitten des Nomaden-Territoriums ziemlich spät, nämlich erst unter Bajazid I. getreten, der unversehens vor derselben erschien und den seldschukidischen Statthalter absetzte. Noch zu Niebuhrs Zeit (1766) zählte Kjutachia über 11,000 Häuser 2; in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts war die Zahl derselben bereits auf ein Dritttheil zusammengeschmolzen und die altberühmte Burg nahezu verfallen. Heute ist diese einst vielgenannte Stadt, in der es noch unter türkischer Herrschaft Paläste, Springbrunnen, Gärten und Heilquellen gab, ein elendes Nest mit einer sehr fanatischen moslemischen Bevölkerung und die elende Paschawirthschaft trägt wesentlich dazu bei, Alles in die größte Verwahrlosung übergehen zu lassen. Als Ibrahim Pascha von Egypten, der Eroberer Syriens über die kilikischen Pässe gedrungen war, um mit seinen Truppen Kleinasien zu überschwemmen, schlug er nach der Schlacht von Konja (weiter im Süden), wo er Sieger blieb, sein Hauptquartier in Kjutuchia auf. Reisende, die kurz vorher hier gewesen waren, konnten noch Augenzeugen sein, wie wenig Geschmack im Allgemeinen die Rechtgläubigen den Kriegen der hohen Pforte entgegenzubringen vermochten. Nachdem die Assentcommissionen sich anfänglich an den Wortlaut des Recrutirungsgesetzes hielten und nur "bart- lose" Leute, d. h.: die jungen, zwischen dem 14. und 20. Lebens- jahre abstellten, gingen sie später in ihren Maßnahmen auch auf die "Sakali", d. i. die "Bärtigen", über. Da dies nun nicht so leicht anging, wurde die Aushebung gewaltsam durchgeführt und Trupps von mehreren Hundert Mann zusammengetrieben, aneinander gefesselt und mit -- Halseisen abgeführt 3. So geschah 1 C. v. Scherzer, "Smyrna etc.", 139. 2 Niebuhr, "Reisebeschreibung etc.", III, 135. 3 Bei Ritter, "Erdkunde" Bd. XVIII., 619. Ueber die neuester Zeit
hier und in der Provinz ausgehobenen Recruten wird ganz Aehnliches Anhang. Anatoliſche Fragmente. ſie gerade ſtolpern … So kehren wir dieſem unheimlichenOrte den Rücken und wandern mitten zwiſchen blühenden Mohn- feldern, welche das geſchätzteſte Opium Kleinaſiens liefern 1, hin- durch gegen Norden zurück, um in Kjutachia, dem einſtigen Sitze des Beglerbegs von Anatolien und ſomit die Hauptſtadt des Landes, zu raſten. Die Stadt iſt das uralte phrygiſche Cotyaïum, die Heimat des Fabuliſten Aeſop. In osmaniſchen Beſitz iſt ſie trotz ihrer Lage inmitten des Nomaden-Territoriums ziemlich ſpät, nämlich erſt unter Bajazid I. getreten, der unverſehens vor derſelben erſchien und den ſeldſchukidiſchen Statthalter abſetzte. Noch zu Niebuhrs Zeit (1766) zählte Kjutachia über 11,000 Häuſer 2; in den dreißiger Jahren unſeres Jahrhunderts war die Zahl derſelben bereits auf ein Dritttheil zuſammengeſchmolzen und die altberühmte Burg nahezu verfallen. Heute iſt dieſe einſt vielgenannte Stadt, in der es noch unter türkiſcher Herrſchaft Paläſte, Springbrunnen, Gärten und Heilquellen gab, ein elendes Neſt mit einer ſehr fanatiſchen moslemiſchen Bevölkerung und die elende Paſchawirthſchaft trägt weſentlich dazu bei, Alles in die größte Verwahrloſung übergehen zu laſſen. Als Ibrahim Paſcha von Egypten, der Eroberer Syriens über die kilikiſchen Päſſe gedrungen war, um mit ſeinen Truppen Kleinaſien zu überſchwemmen, ſchlug er nach der Schlacht von Konja (weiter im Süden), wo er Sieger blieb, ſein Hauptquartier in Kjutuchia auf. Reiſende, die kurz vorher hier geweſen waren, konnten noch Augenzeugen ſein, wie wenig Geſchmack im Allgemeinen die Rechtgläubigen den Kriegen der hohen Pforte entgegenzubringen vermochten. Nachdem die Aſſentcommiſſionen ſich anfänglich an den Wortlaut des Recrutirungsgeſetzes hielten und nur „bart- loſe“ Leute, d. h.: die jungen, zwiſchen dem 14. und 20. Lebens- jahre abſtellten, gingen ſie ſpäter in ihren Maßnahmen auch auf die „Sakali“, d. i. die „Bärtigen“, über. Da dies nun nicht ſo leicht anging, wurde die Aushebung gewaltſam durchgeführt und Trupps von mehreren Hundert Mann zuſammengetrieben, aneinander gefeſſelt und mit — Halseiſen abgeführt 3. So geſchah 1 C. v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 139. 2 Niebuhr, „Reiſebeſchreibung ꝛc.“, III, 135. 3 Bei Ritter, „Erdkunde“ Bd. XVIII., 619. Ueber die neueſter Zeit
hier und in der Provinz ausgehobenen Recruten wird ganz Aehnliches <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0184" n="152"/><fw place="top" type="header">Anhang. Anatoliſche Fragmente.</fw><lb/> ſie gerade ſtolpern … So kehren wir dieſem unheimlichen<lb/> Orte den Rücken und wandern mitten zwiſchen blühenden Mohn-<lb/> feldern, welche das geſchätzteſte Opium Kleinaſiens liefern <note place="foot" n="1">C. v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 139.</note>, hin-<lb/> durch gegen Norden zurück, um in Kjutachia, dem einſtigen Sitze<lb/> des Beglerbegs von Anatolien und ſomit die Hauptſtadt des<lb/> Landes, zu raſten. Die Stadt iſt das uralte phrygiſche Cotya<hi rendition="#aq">ï</hi>um,<lb/> die Heimat des Fabuliſten Aeſop. In osmaniſchen Beſitz iſt<lb/> ſie trotz ihrer Lage inmitten des Nomaden-Territoriums ziemlich<lb/> ſpät, nämlich erſt unter Bajazid <hi rendition="#aq">I.</hi> getreten, der unverſehens vor<lb/> derſelben erſchien und den ſeldſchukidiſchen Statthalter abſetzte.<lb/> Noch zu Niebuhrs Zeit (1766) zählte Kjutachia über 11,000<lb/> Häuſer <note place="foot" n="2">Niebuhr, „Reiſebeſchreibung ꝛc.“, <hi rendition="#aq">III</hi>, 135.</note>; in den dreißiger Jahren unſeres Jahrhunderts war die<lb/> Zahl derſelben bereits auf ein Dritttheil zuſammengeſchmolzen<lb/> und die altberühmte Burg nahezu verfallen. Heute iſt dieſe<lb/> einſt vielgenannte Stadt, in der es noch unter türkiſcher Herrſchaft<lb/> Paläſte, Springbrunnen, Gärten und Heilquellen gab, ein elendes<lb/> Neſt mit einer ſehr fanatiſchen moslemiſchen Bevölkerung und<lb/> die elende Paſchawirthſchaft trägt weſentlich dazu bei, Alles in<lb/> die größte Verwahrloſung übergehen zu laſſen. Als Ibrahim<lb/> Paſcha von Egypten, der Eroberer Syriens über die kilikiſchen<lb/> Päſſe gedrungen war, um mit ſeinen Truppen Kleinaſien zu<lb/> überſchwemmen, ſchlug er nach der Schlacht von Konja (weiter<lb/> im Süden), wo er Sieger blieb, ſein Hauptquartier in Kjutuchia<lb/> auf. Reiſende, die kurz vorher hier geweſen waren, konnten noch<lb/> Augenzeugen ſein, wie wenig Geſchmack im Allgemeinen die<lb/> Rechtgläubigen den Kriegen der hohen Pforte entgegenzubringen<lb/> vermochten. Nachdem die Aſſentcommiſſionen ſich anfänglich<lb/> an den Wortlaut des Recrutirungsgeſetzes hielten und nur „bart-<lb/> loſe“ Leute, d. h.: die jungen, zwiſchen dem 14. und 20. Lebens-<lb/> jahre abſtellten, gingen ſie ſpäter in ihren Maßnahmen auch auf<lb/> die „Sakali“, d. i. die „Bärtigen“, über. Da dies nun nicht<lb/> ſo leicht anging, wurde die Aushebung gewaltſam durchgeführt<lb/> und Trupps von mehreren Hundert Mann zuſammengetrieben,<lb/> aneinander gefeſſelt und mit — Halseiſen abgeführt <note xml:id="seg2pn_16_1" next="#seg2pn_16_2" place="foot" n="3">Bei Ritter, „Erdkunde“ Bd. <hi rendition="#aq">XVIII.</hi>, 619. Ueber die neueſter Zeit<lb/> hier und in der Provinz ausgehobenen Recruten wird ganz Aehnliches</note>. So geſchah<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [152/0184]
Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſie gerade ſtolpern … So kehren wir dieſem unheimlichen
Orte den Rücken und wandern mitten zwiſchen blühenden Mohn-
feldern, welche das geſchätzteſte Opium Kleinaſiens liefern 1, hin-
durch gegen Norden zurück, um in Kjutachia, dem einſtigen Sitze
des Beglerbegs von Anatolien und ſomit die Hauptſtadt des
Landes, zu raſten. Die Stadt iſt das uralte phrygiſche Cotyaïum,
die Heimat des Fabuliſten Aeſop. In osmaniſchen Beſitz iſt
ſie trotz ihrer Lage inmitten des Nomaden-Territoriums ziemlich
ſpät, nämlich erſt unter Bajazid I. getreten, der unverſehens vor
derſelben erſchien und den ſeldſchukidiſchen Statthalter abſetzte.
Noch zu Niebuhrs Zeit (1766) zählte Kjutachia über 11,000
Häuſer 2; in den dreißiger Jahren unſeres Jahrhunderts war die
Zahl derſelben bereits auf ein Dritttheil zuſammengeſchmolzen
und die altberühmte Burg nahezu verfallen. Heute iſt dieſe
einſt vielgenannte Stadt, in der es noch unter türkiſcher Herrſchaft
Paläſte, Springbrunnen, Gärten und Heilquellen gab, ein elendes
Neſt mit einer ſehr fanatiſchen moslemiſchen Bevölkerung und
die elende Paſchawirthſchaft trägt weſentlich dazu bei, Alles in
die größte Verwahrloſung übergehen zu laſſen. Als Ibrahim
Paſcha von Egypten, der Eroberer Syriens über die kilikiſchen
Päſſe gedrungen war, um mit ſeinen Truppen Kleinaſien zu
überſchwemmen, ſchlug er nach der Schlacht von Konja (weiter
im Süden), wo er Sieger blieb, ſein Hauptquartier in Kjutuchia
auf. Reiſende, die kurz vorher hier geweſen waren, konnten noch
Augenzeugen ſein, wie wenig Geſchmack im Allgemeinen die
Rechtgläubigen den Kriegen der hohen Pforte entgegenzubringen
vermochten. Nachdem die Aſſentcommiſſionen ſich anfänglich
an den Wortlaut des Recrutirungsgeſetzes hielten und nur „bart-
loſe“ Leute, d. h.: die jungen, zwiſchen dem 14. und 20. Lebens-
jahre abſtellten, gingen ſie ſpäter in ihren Maßnahmen auch auf
die „Sakali“, d. i. die „Bärtigen“, über. Da dies nun nicht
ſo leicht anging, wurde die Aushebung gewaltſam durchgeführt
und Trupps von mehreren Hundert Mann zuſammengetrieben,
aneinander gefeſſelt und mit — Halseiſen abgeführt 3. So geſchah
1 C. v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 139.
2 Niebuhr, „Reiſebeſchreibung ꝛc.“, III, 135.
3 Bei Ritter, „Erdkunde“ Bd. XVIII., 619. Ueber die neueſter Zeit
hier und in der Provinz ausgehobenen Recruten wird ganz Aehnliches
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |