Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.Anhang. Anatolische Fragmente. Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichste in der Ver- 1 Dieser Asket, Dichter und Philosoph zugleich, war eine der ersten
Verkörperungen jener pantheistischen Naturreligion, welche sich zum soge- nannten "Sufismus" ausbildete, und namentlich in Persien mit der Zeit die weiteste Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieser Lehre erklärten und erklären, daß Gott in jedem Dinge sei, und daß jedes Ding, wenn es die Göttlichkeit in sich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne. Die elementare Macht, mit der sich diese Schwärmer den engen Schranken der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigsten Verfol- gungen, sieghaft über die Massen, zumal durch angebliche Wunder, welche einzelne Märtyrer des Sufismus in Persien zum Besten gaben. So Anhang. Anatoliſche Fragmente. Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichſte in der Ver- 1 Dieſer Asket, Dichter und Philoſoph zugleich, war eine der erſten
Verkörperungen jener pantheiſtiſchen Naturreligion, welche ſich zum ſoge- nannten „Sufismus“ ausbildete, und namentlich in Perſien mit der Zeit die weiteſte Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieſer Lehre erklärten und erklären, daß Gott in jedem Dinge ſei, und daß jedes Ding, wenn es die Göttlichkeit in ſich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne. Die elementare Macht, mit der ſich dieſe Schwärmer den engen Schranken der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigſten Verfol- gungen, ſieghaft über die Maſſen, zumal durch angebliche Wunder, welche einzelne Märtyrer des Sufismus in Perſien zum Beſten gaben. So <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0212" n="180"/> <fw place="top" type="header">Anhang. Anatoliſche Fragmente.</fw><lb/> <p>Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichſte in der Ver-<lb/> himmlung des Menſchen geleiſtet. Während das Chriſtenthum<lb/> in der Perſon ſeiner oberſten Schutzherren — unbeſchadet ver-<lb/> ſchiedener ritueller Opponenten — der römiſchen Päpſte, Gläu-<lb/> bige, welche ihr Wohlgefallen ernteten, einfach nur canoniſirte,<lb/> konnte bei den Orientalen, zumal bei den Osmanen, die ver-<lb/> meintliche Göttlichkeit des einen oder anderen Sterblichen von<lb/> der größten politiſchen Tragweite werden. Es erſcheint dies er-<lb/> klärlich, wenn man berückſichtigt, wie ſehr ſich bei den mos-<lb/> lemiſchen Völkern Religion und Politik decken. Patriotismus<lb/> iſt im türkiſchen Sinne vielleicht heute noch undefinirbar und die<lb/> angebliche Vaterlandsliebe iſt eigentlich nichts anderes, als eine<lb/> religiöſe Glaubenstreue. Darum hatte dieſes Volk auch ſeit<lb/> jeher keinerlei Sinn für ſeine großen hiſtoriſchen Perſönlichkeiten,<lb/> für ſeine Staatsmänner und Regenten, und jedes Andenken an<lb/> ſie würde mit der Zeit geſchwunden ſein, hätte es nicht jederzeit<lb/> wohlbeſtallte kaiſerlich ottomaniſche Reichshiſtoriographen, wie<lb/> Lufti, Eſſad u. A. gegeben, die gegen ein anſtändiges Jahres-<lb/> ſalair für die Unſterblichkeit der großen Patrioten der Türkei<lb/> Sorge trugen. Um ſo größere Aufmerkſamkeit widmen die Os-<lb/> manen jenen gottgeliebten Männern, die man am treffendſten<lb/> mit dem Namen „Nationalheilige“ belegen könnte und deren<lb/> Verdienſt um die Machtentfaltung der Türkenherrſchaft von den<lb/> Rechtgläubigen dankbarſt anerkannt wird. Von dieſen ſind ihnen<lb/> namentlich zwei unvergeßlich: Dſchelaleddin Rumi<note xml:id="seg2pn_21_1" next="#seg2pn_21_2" place="foot" n="1">Dieſer Asket, Dichter und Philoſoph zugleich, war eine der erſten<lb/> Verkörperungen jener pantheiſtiſchen Naturreligion, welche ſich zum ſoge-<lb/> nannten „Sufismus“ ausbildete, und namentlich in Perſien mit der Zeit<lb/> die weiteſte Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieſer Lehre erklärten<lb/> und erklären, daß Gott in jedem Dinge ſei, und daß jedes Ding, wenn<lb/> es die Göttlichkeit in ſich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne.<lb/> Die elementare Macht, mit der ſich dieſe Schwärmer den engen Schranken<lb/> der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigſten Verfol-<lb/> gungen, ſieghaft über die Maſſen, zumal durch angebliche Wunder, welche<lb/> einzelne Märtyrer des Sufismus in Perſien zum Beſten gaben. So</note> und Hadſchi<lb/> Begtaſch, Zeitgenoſſen der erſten Osmanen-Sultane und ſomit<lb/> gewiſſermaßen Mitbegründer der Dynaſtie, der ſie durch ihre<lb/> Gottähnlichkeit auf ihrem erſten Lebenswege leuchteten.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [180/0212]
Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichſte in der Ver-
himmlung des Menſchen geleiſtet. Während das Chriſtenthum
in der Perſon ſeiner oberſten Schutzherren — unbeſchadet ver-
ſchiedener ritueller Opponenten — der römiſchen Päpſte, Gläu-
bige, welche ihr Wohlgefallen ernteten, einfach nur canoniſirte,
konnte bei den Orientalen, zumal bei den Osmanen, die ver-
meintliche Göttlichkeit des einen oder anderen Sterblichen von
der größten politiſchen Tragweite werden. Es erſcheint dies er-
klärlich, wenn man berückſichtigt, wie ſehr ſich bei den mos-
lemiſchen Völkern Religion und Politik decken. Patriotismus
iſt im türkiſchen Sinne vielleicht heute noch undefinirbar und die
angebliche Vaterlandsliebe iſt eigentlich nichts anderes, als eine
religiöſe Glaubenstreue. Darum hatte dieſes Volk auch ſeit
jeher keinerlei Sinn für ſeine großen hiſtoriſchen Perſönlichkeiten,
für ſeine Staatsmänner und Regenten, und jedes Andenken an
ſie würde mit der Zeit geſchwunden ſein, hätte es nicht jederzeit
wohlbeſtallte kaiſerlich ottomaniſche Reichshiſtoriographen, wie
Lufti, Eſſad u. A. gegeben, die gegen ein anſtändiges Jahres-
ſalair für die Unſterblichkeit der großen Patrioten der Türkei
Sorge trugen. Um ſo größere Aufmerkſamkeit widmen die Os-
manen jenen gottgeliebten Männern, die man am treffendſten
mit dem Namen „Nationalheilige“ belegen könnte und deren
Verdienſt um die Machtentfaltung der Türkenherrſchaft von den
Rechtgläubigen dankbarſt anerkannt wird. Von dieſen ſind ihnen
namentlich zwei unvergeßlich: Dſchelaleddin Rumi 1 und Hadſchi
Begtaſch, Zeitgenoſſen der erſten Osmanen-Sultane und ſomit
gewiſſermaßen Mitbegründer der Dynaſtie, der ſie durch ihre
Gottähnlichkeit auf ihrem erſten Lebenswege leuchteten.
1 Dieſer Asket, Dichter und Philoſoph zugleich, war eine der erſten
Verkörperungen jener pantheiſtiſchen Naturreligion, welche ſich zum ſoge-
nannten „Sufismus“ ausbildete, und namentlich in Perſien mit der Zeit
die weiteſte Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieſer Lehre erklärten
und erklären, daß Gott in jedem Dinge ſei, und daß jedes Ding, wenn
es die Göttlichkeit in ſich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne.
Die elementare Macht, mit der ſich dieſe Schwärmer den engen Schranken
der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigſten Verfol-
gungen, ſieghaft über die Maſſen, zumal durch angebliche Wunder, welche
einzelne Märtyrer des Sufismus in Perſien zum Beſten gaben. So
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