Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_246.001
Sprachen verschieden: das Französische drängt zur klar geprägten, pse_246.002
gesellschaftlich befriedigenden Gestaltung, das Englische pse_246.003
zur möglichst vollkommenen Zweckerfüllung, das pse_246.004
Deutsche zur Eigenwüchsigkeit der einzelnen Gebilde.

pse_246.005
Es wird also eine Sprache um so eher für dichterische Übersetzungen pse_246.006
geeignet sein, je reicher sie entwickelt ist. Daher die pse_246.007
mühsamen Versuche, Homer oder Shakespeare ins Deutsche pse_246.008
zu übersetzen, vor der mächtigen künstlerischen Entfaltung pse_246.009
in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Daher aber auch die immer pse_246.010
wiederholten Versuche, aus neu errungenen Sprachmöglichkeiten pse_246.011
die Übersetzungen neu zu formen: von Voß bis zu pse_246.012
R. A. Schröder, von A. W. Schlegel bis zu Stefan George. pse_246.013
Ein kleines Beispiel: das bekannte Gedicht Manzonis "Il pse_246.014
cinque maggio" enthält als Vers 15 die drei Perfektformen pse_246.015
"cadde, risorse e giacque". Roh übersetzt: er fiel, stand wieder pse_246.016
auf und lag. Goethe übersetzt sie in freierem Satzbau mit den pse_246.017
drei Infinitiven: (Die Muse sah) "ihn fallen, steigen, liegen". pse_246.018
Nun enthält die romanische Form des einfachen Perfekts eine pse_246.019
Erfassungsweise eines Vorgangs, die durch keine deutsche pse_246.020
Form in ihrem Wert ersetzbar ist. Daher fehlt ein Ton in der pse_246.021
Übersetzung, der im Original vorhanden ist. Der romanische pse_246.022
Philologe Paul Heyse ließ auch eine Übersetzung in einer pse_246.023
Sammlung 1890 erscheinen. Und er ersetzt das zweite und pse_246.024
dritte Goethesche Vorgangswort durch "erstehen" und "erliegen". pse_246.025
Tatsächlich hat die deutsche Sprache in diesen Bildungselementen pse_246.026
die Möglichkeit, diese bestimmte Erfassungsweise pse_246.027
des ganzen Vorgangs samt seinem Abschluß nachzubilden. pse_246.028
Damit wird zugleich die zwiespältige Aufgabe des pse_246.029
Übersetzers deutlich: er muß philologisch genaue, wissenschaftliche pse_246.030
Kenntnisse beider Sprachen haben und muß doch pse_246.031
Dichter sein. Wie sollen also Dichtungen übersetzt werden? pse_246.032
Eine wörtliche Übersetzung kann höchstens den gleichen pse_246.033
Sachverhalt mitteilen, auch das nicht immer. Die innere Haltung pse_246.034
der Sprachgestaltung wird dabei durch eine andere ersetzt pse_246.035
werden. Auch die metrischen Schwierigkeiten sind kaum zu pse_246.036
überwinden. Kaum jemals werden die Reimfolgen beachtet pse_246.037
werden können, oder es gibt auch sprachlich kaum zu rechtfertigende pse_246.038
Gezwungenheiten. Sehr lehrreich ist Rilkes Übersetzung

pse_246.001
Sprachen verschieden: das Französische drängt zur klar geprägten, pse_246.002
gesellschaftlich befriedigenden Gestaltung, das Englische pse_246.003
zur möglichst vollkommenen Zweckerfüllung, das pse_246.004
Deutsche zur Eigenwüchsigkeit der einzelnen Gebilde.

pse_246.005
Es wird also eine Sprache um so eher für dichterische Übersetzungen pse_246.006
geeignet sein, je reicher sie entwickelt ist. Daher die pse_246.007
mühsamen Versuche, Homer oder Shakespeare ins Deutsche pse_246.008
zu übersetzen, vor der mächtigen künstlerischen Entfaltung pse_246.009
in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Daher aber auch die immer pse_246.010
wiederholten Versuche, aus neu errungenen Sprachmöglichkeiten pse_246.011
die Übersetzungen neu zu formen: von Voß bis zu pse_246.012
R. A. Schröder, von A. W. Schlegel bis zu Stefan George. pse_246.013
Ein kleines Beispiel: das bekannte Gedicht Manzonis »Il pse_246.014
cinque maggio« enthält als Vers 15 die drei Perfektformen pse_246.015
»cadde, risorse e giacque«. Roh übersetzt: er fiel, stand wieder pse_246.016
auf und lag. Goethe übersetzt sie in freierem Satzbau mit den pse_246.017
drei Infinitiven: (Die Muse sah) »ihn fallen, steigen, liegen«. pse_246.018
Nun enthält die romanische Form des einfachen Perfekts eine pse_246.019
Erfassungsweise eines Vorgangs, die durch keine deutsche pse_246.020
Form in ihrem Wert ersetzbar ist. Daher fehlt ein Ton in der pse_246.021
Übersetzung, der im Original vorhanden ist. Der romanische pse_246.022
Philologe Paul Heyse ließ auch eine Übersetzung in einer pse_246.023
Sammlung 1890 erscheinen. Und er ersetzt das zweite und pse_246.024
dritte Goethesche Vorgangswort durch »erstehen« und »erliegen«. pse_246.025
Tatsächlich hat die deutsche Sprache in diesen Bildungselementen pse_246.026
die Möglichkeit, diese bestimmte Erfassungsweise pse_246.027
des ganzen Vorgangs samt seinem Abschluß nachzubilden. pse_246.028
Damit wird zugleich die zwiespältige Aufgabe des pse_246.029
Übersetzers deutlich: er muß philologisch genaue, wissenschaftliche pse_246.030
Kenntnisse beider Sprachen haben und muß doch pse_246.031
Dichter sein. Wie sollen also Dichtungen übersetzt werden? pse_246.032
Eine wörtliche Übersetzung kann höchstens den gleichen pse_246.033
Sachverhalt mitteilen, auch das nicht immer. Die innere Haltung pse_246.034
der Sprachgestaltung wird dabei durch eine andere ersetzt pse_246.035
werden. Auch die metrischen Schwierigkeiten sind kaum zu pse_246.036
überwinden. Kaum jemals werden die Reimfolgen beachtet pse_246.037
werden können, oder es gibt auch sprachlich kaum zu rechtfertigende pse_246.038
Gezwungenheiten. Sehr lehrreich ist Rilkes Übersetzung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0262" n="246"/><lb n="pse_246.001"/>
Sprachen verschieden: das Französische drängt zur klar geprägten, <lb n="pse_246.002"/>
gesellschaftlich befriedigenden Gestaltung, das Englische <lb n="pse_246.003"/>
zur möglichst vollkommenen Zweckerfüllung, das <lb n="pse_246.004"/>
Deutsche zur Eigenwüchsigkeit der einzelnen Gebilde.</p>
            <p><lb n="pse_246.005"/>
Es wird also eine Sprache um so eher für dichterische Übersetzungen <lb n="pse_246.006"/>
geeignet sein, je reicher sie entwickelt ist. Daher die <lb n="pse_246.007"/>
mühsamen Versuche, Homer oder Shakespeare ins Deutsche <lb n="pse_246.008"/>
zu übersetzen, vor der mächtigen künstlerischen Entfaltung <lb n="pse_246.009"/>
in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Daher aber auch die immer <lb n="pse_246.010"/>
wiederholten Versuche, aus neu errungenen Sprachmöglichkeiten <lb n="pse_246.011"/>
die Übersetzungen neu zu formen: von Voß bis zu <lb n="pse_246.012"/>
R. A. Schröder, von A. W. Schlegel bis zu Stefan George. <lb n="pse_246.013"/>
Ein kleines Beispiel: das bekannte Gedicht Manzonis »Il <lb n="pse_246.014"/>
cinque maggio« enthält als Vers 15 die drei Perfektformen <lb n="pse_246.015"/>
»cadde, risorse e giacque«. Roh übersetzt: er fiel, stand wieder <lb n="pse_246.016"/>
auf und lag. Goethe übersetzt sie in freierem Satzbau mit den <lb n="pse_246.017"/>
drei Infinitiven: (Die Muse sah) »ihn fallen, steigen, liegen«. <lb n="pse_246.018"/>
Nun enthält die romanische Form des einfachen Perfekts eine <lb n="pse_246.019"/>
Erfassungsweise eines Vorgangs, die durch keine deutsche <lb n="pse_246.020"/>
Form in ihrem Wert ersetzbar ist. Daher fehlt ein Ton in der <lb n="pse_246.021"/>
Übersetzung, der im Original vorhanden ist. Der romanische <lb n="pse_246.022"/>
Philologe Paul Heyse ließ auch eine Übersetzung in einer <lb n="pse_246.023"/>
Sammlung 1890 erscheinen. Und er ersetzt das zweite und <lb n="pse_246.024"/>
dritte Goethesche Vorgangswort durch »erstehen« und »erliegen«. <lb n="pse_246.025"/>
Tatsächlich hat die deutsche Sprache in diesen Bildungselementen <lb n="pse_246.026"/>
die Möglichkeit, diese bestimmte Erfassungsweise <lb n="pse_246.027"/>
des ganzen Vorgangs samt seinem Abschluß nachzubilden. <lb n="pse_246.028"/>
Damit wird zugleich die zwiespältige Aufgabe des <lb n="pse_246.029"/>
Übersetzers deutlich: er muß philologisch genaue, wissenschaftliche <lb n="pse_246.030"/>
Kenntnisse beider Sprachen haben und muß doch <lb n="pse_246.031"/>
Dichter sein. Wie sollen also Dichtungen übersetzt werden? <lb n="pse_246.032"/>
Eine wörtliche Übersetzung kann höchstens den gleichen <lb n="pse_246.033"/>
Sachverhalt mitteilen, auch das nicht immer. Die innere Haltung <lb n="pse_246.034"/>
der Sprachgestaltung wird dabei durch eine andere ersetzt <lb n="pse_246.035"/>
werden. Auch die metrischen Schwierigkeiten sind kaum zu <lb n="pse_246.036"/>
überwinden. Kaum jemals werden die Reimfolgen beachtet <lb n="pse_246.037"/>
werden können, oder es gibt auch sprachlich kaum zu rechtfertigende <lb n="pse_246.038"/>
Gezwungenheiten. Sehr lehrreich ist Rilkes Übersetzung
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[246/0262] pse_246.001 Sprachen verschieden: das Französische drängt zur klar geprägten, pse_246.002 gesellschaftlich befriedigenden Gestaltung, das Englische pse_246.003 zur möglichst vollkommenen Zweckerfüllung, das pse_246.004 Deutsche zur Eigenwüchsigkeit der einzelnen Gebilde. pse_246.005 Es wird also eine Sprache um so eher für dichterische Übersetzungen pse_246.006 geeignet sein, je reicher sie entwickelt ist. Daher die pse_246.007 mühsamen Versuche, Homer oder Shakespeare ins Deutsche pse_246.008 zu übersetzen, vor der mächtigen künstlerischen Entfaltung pse_246.009 in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Daher aber auch die immer pse_246.010 wiederholten Versuche, aus neu errungenen Sprachmöglichkeiten pse_246.011 die Übersetzungen neu zu formen: von Voß bis zu pse_246.012 R. A. Schröder, von A. W. Schlegel bis zu Stefan George. pse_246.013 Ein kleines Beispiel: das bekannte Gedicht Manzonis »Il pse_246.014 cinque maggio« enthält als Vers 15 die drei Perfektformen pse_246.015 »cadde, risorse e giacque«. Roh übersetzt: er fiel, stand wieder pse_246.016 auf und lag. Goethe übersetzt sie in freierem Satzbau mit den pse_246.017 drei Infinitiven: (Die Muse sah) »ihn fallen, steigen, liegen«. pse_246.018 Nun enthält die romanische Form des einfachen Perfekts eine pse_246.019 Erfassungsweise eines Vorgangs, die durch keine deutsche pse_246.020 Form in ihrem Wert ersetzbar ist. Daher fehlt ein Ton in der pse_246.021 Übersetzung, der im Original vorhanden ist. Der romanische pse_246.022 Philologe Paul Heyse ließ auch eine Übersetzung in einer pse_246.023 Sammlung 1890 erscheinen. Und er ersetzt das zweite und pse_246.024 dritte Goethesche Vorgangswort durch »erstehen« und »erliegen«. pse_246.025 Tatsächlich hat die deutsche Sprache in diesen Bildungselementen pse_246.026 die Möglichkeit, diese bestimmte Erfassungsweise pse_246.027 des ganzen Vorgangs samt seinem Abschluß nachzubilden. pse_246.028 Damit wird zugleich die zwiespältige Aufgabe des pse_246.029 Übersetzers deutlich: er muß philologisch genaue, wissenschaftliche pse_246.030 Kenntnisse beider Sprachen haben und muß doch pse_246.031 Dichter sein. Wie sollen also Dichtungen übersetzt werden? pse_246.032 Eine wörtliche Übersetzung kann höchstens den gleichen pse_246.033 Sachverhalt mitteilen, auch das nicht immer. Die innere Haltung pse_246.034 der Sprachgestaltung wird dabei durch eine andere ersetzt pse_246.035 werden. Auch die metrischen Schwierigkeiten sind kaum zu pse_246.036 überwinden. Kaum jemals werden die Reimfolgen beachtet pse_246.037 werden können, oder es gibt auch sprachlich kaum zu rechtfertigende pse_246.038 Gezwungenheiten. Sehr lehrreich ist Rilkes Übersetzung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/262
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/262>, abgerufen am 21.11.2024.