pse_281.001 hat. Gestalt ist jedes Gebilde, das aus Gliedern besteht, pse_281.002 die im Ganzen eine notwendige und unersetzbare Funktion pse_281.003 erfüllen und so zum Ganzen zusammenwachsen. Man hat pse_281.004 erkannt, daß auch die Dichtung als solche Gestaltwirklichkeit pse_281.005 gesehen werden kann, als "sprachliche Entfaltung eines Kräftespiels pse_281.006 von Bedeutungen" (G. Müller). Dabei kommt es auch pse_281.007 darauf an, welche Bedeutung den einzelnen Gliedern zukommt; pse_281.008 sie sind nicht alle gleich wichtig im Gefüge, und pse_281.009 auch diese Bedeutungsschichtung, besonders in der epischen pse_281.010 und dramatischen Großdichtung, ist für die Form der Dichtung pse_281.011 wichtig. Man hat nun aber wohl das Prinzip der Gestalthaftigkeit pse_281.012 übersteigert. G. Müller hat den morphologischen pse_281.013 Blick auf die Dichtung in Anlehnung an Goethes naturwissenschaftliche pse_281.014 Methode durchzuführen versucht. Man sagt, pse_281.015 eine Dichtung sei ein Organismus und wie ein solcher gebaut. pse_281.016 Die Übersteigerung dieser Sichtweise führt dazu, der Eigenart pse_281.017 der Dichtung nicht gerecht zu werden, sie einseitig zu sehen pse_281.018 oder gewaltsam zu deuten. Man kann niemals die Teile einer pse_281.019 Pflanze mit den "Teilen" eines Gedichts, etwa gar dem Rhythmus, pse_281.020 dem Satz usw., vergleichen. Auch der Metamorphosenbegriff, pse_281.021 der aus der Goetheschen Pflanzenlehre genommen pse_281.022 wurde, paßt nicht auf die innere Bildung, auf die Aufbaugesetzlichkeit pse_281.023 einer Dichtung. Auch ist ja Goethes Naturbegriff pse_281.024 selbst nur eine Sicht auf die Welt. Vor allem aber ist es pse_281.025 wichtig, daß wir bei der Betrachtung der Dichtung uns über pse_281.026 den Unterschied zwischen Organismus und ästhetischem Gebilde pse_281.027 klar werden. Unterschiede bestehen vor allem im pse_281.028 Wachstum, im Entstehen. Ein Organismus wächst, schreitet pse_281.029 vom Einfachen zum Zusammengesetzten fort. Ein Kunstwerk pse_281.030 wird gemacht, und es schreitet von einer zunächst ungebundenen pse_281.031 Vielheit von Einzelheiten zu Ganzheit und Geschlossenheit pse_281.032 weiter. Das ist zumindest eine Art, wie ein Kunstwerk pse_281.033 entsteht. Freilich ist es möglich, daß auch ein Kunstwerk, besonders pse_281.034 eine Dichtung, gleichsam aus einem Keim wächst, aus pse_281.035 einem solchen Ansatzpunkt sich zu immer größerem innerem pse_281.036 Reichtum entfaltet. Daher bestehen im Ergebnis wirklich pse_281.037 Ähnlichkeiten zwischen Organismus und Kunstwerk. Aber pse_281.038 man wird immer im Auge behalten müssen, daß es sich bei
pse_281.001 hat. Gestalt ist jedes Gebilde, das aus Gliedern besteht, pse_281.002 die im Ganzen eine notwendige und unersetzbare Funktion pse_281.003 erfüllen und so zum Ganzen zusammenwachsen. Man hat pse_281.004 erkannt, daß auch die Dichtung als solche Gestaltwirklichkeit pse_281.005 gesehen werden kann, als »sprachliche Entfaltung eines Kräftespiels pse_281.006 von Bedeutungen« (G. Müller). Dabei kommt es auch pse_281.007 darauf an, welche Bedeutung den einzelnen Gliedern zukommt; pse_281.008 sie sind nicht alle gleich wichtig im Gefüge, und pse_281.009 auch diese Bedeutungsschichtung, besonders in der epischen pse_281.010 und dramatischen Großdichtung, ist für die Form der Dichtung pse_281.011 wichtig. Man hat nun aber wohl das Prinzip der Gestalthaftigkeit pse_281.012 übersteigert. G. Müller hat den morphologischen pse_281.013 Blick auf die Dichtung in Anlehnung an Goethes naturwissenschaftliche pse_281.014 Methode durchzuführen versucht. Man sagt, pse_281.015 eine Dichtung sei ein Organismus und wie ein solcher gebaut. pse_281.016 Die Übersteigerung dieser Sichtweise führt dazu, der Eigenart pse_281.017 der Dichtung nicht gerecht zu werden, sie einseitig zu sehen pse_281.018 oder gewaltsam zu deuten. Man kann niemals die Teile einer pse_281.019 Pflanze mit den »Teilen« eines Gedichts, etwa gar dem Rhythmus, pse_281.020 dem Satz usw., vergleichen. Auch der Metamorphosenbegriff, pse_281.021 der aus der Goetheschen Pflanzenlehre genommen pse_281.022 wurde, paßt nicht auf die innere Bildung, auf die Aufbaugesetzlichkeit pse_281.023 einer Dichtung. Auch ist ja Goethes Naturbegriff pse_281.024 selbst nur eine Sicht auf die Welt. Vor allem aber ist es pse_281.025 wichtig, daß wir bei der Betrachtung der Dichtung uns über pse_281.026 den Unterschied zwischen Organismus und ästhetischem Gebilde pse_281.027 klar werden. Unterschiede bestehen vor allem im pse_281.028 Wachstum, im Entstehen. Ein Organismus wächst, schreitet pse_281.029 vom Einfachen zum Zusammengesetzten fort. Ein Kunstwerk pse_281.030 wird gemacht, und es schreitet von einer zunächst ungebundenen pse_281.031 Vielheit von Einzelheiten zu Ganzheit und Geschlossenheit pse_281.032 weiter. Das ist zumindest eine Art, wie ein Kunstwerk pse_281.033 entsteht. Freilich ist es möglich, daß auch ein Kunstwerk, besonders pse_281.034 eine Dichtung, gleichsam aus einem Keim wächst, aus pse_281.035 einem solchen Ansatzpunkt sich zu immer größerem innerem pse_281.036 Reichtum entfaltet. Daher bestehen im Ergebnis wirklich pse_281.037 Ähnlichkeiten zwischen Organismus und Kunstwerk. Aber pse_281.038 man wird immer im Auge behalten müssen, daß es sich bei
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erkannt, daß auch die Dichtung als solche Gestaltwirklichkeit pse_281.005
gesehen werden kann, als »sprachliche Entfaltung eines Kräftespiels pse_281.006
von Bedeutungen« (G. Müller). Dabei kommt es auch pse_281.007
darauf an, welche Bedeutung den einzelnen Gliedern zukommt; pse_281.008
sie sind nicht alle gleich wichtig im Gefüge, und pse_281.009
auch diese Bedeutungsschichtung, besonders in der epischen pse_281.010
und dramatischen Großdichtung, ist für die Form der Dichtung pse_281.011
wichtig. Man hat nun aber wohl das Prinzip der Gestalthaftigkeit pse_281.012
übersteigert. G. Müller hat den morphologischen pse_281.013
Blick auf die Dichtung in Anlehnung an Goethes naturwissenschaftliche pse_281.014
Methode durchzuführen versucht. Man sagt, pse_281.015
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Die Übersteigerung dieser Sichtweise führt dazu, der Eigenart pse_281.017
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Ähnlichkeiten zwischen Organismus und Kunstwerk. Aber pse_281.038
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/297>, abgerufen am 21.11.2024.
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