Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_282.001
Organismen um Wachstum, bei Kunstwerken um sogenannte pse_282.002
Integration handelt, d. h. um das Zusammenfügen von Gliedern pse_282.003
aus überwölbenden Prinzipien, die geistiger Art sind.

pse_282.004
In der Überlegung, welcher Art nun wirklich die Ganzheit pse_282.005
einer Dichtung ist, vergißt man allzuleicht, daß ja nicht alle pse_282.006
Dichtungen gleich gebaut sind. In der Struktur der einzelnen pse_282.007
Dichtungen kann man in dieser Hinsicht auch verschiedene pse_282.008
Typen erkennen. Sie sind bis zu einem gewissen Grade vorgebildet pse_282.009
in den Typen, die einst Walzel in bezug auf die Gesamtstruktur pse_282.010
von Dichtungen aufgestellt hat: eine statischromanische pse_282.011
Form, die gleichsam den gesamten Gehalt aus pse_282.012
dem flutenden Leben in abstrakt-geistige Räume hinaufhebt. pse_282.013
Hier könnte man mit Vorsicht den Ausdruck Konstruktion pse_282.014
gebrauchen, ohne für Dichtung gleich einen Unwert damit pse_282.015
zu verbinden. Es handelt sich nicht um die Art der Entstehung pse_282.016
und Ausführung der Dichtung, sondern um die Aufbauart pse_282.017
des vollendeten Werks. Es erscheint als streng durchdachtes pse_282.018
Gebilde. Die einzelnen Glieder sind in beinahe rationaler pse_282.019
Weise eingebaut und haben ihren strengen Sinn im Ganzen. pse_282.020
Die Fügung ist auch sprachlich insofern erkennbar, als bestimmte pse_282.021
Worte die geistigen, ja sogar die logischen Beziehungen pse_282.022
festhalten. Symmetrie und Bauweise nach Zahlenverhältnissen, pse_282.023
wie wir sie früher erwähnt haben, gehören auch pse_282.024
hieher. Da gibt es keine Unklarheit, keine Verschwommenheit, pse_282.025
kaum unmerkliche Übergänge. Solche Bauweise, die in pse_282.026
den Worten Konstruktion und Komposition angedeutet ist, pse_282.027
hat ihre hohen Werte. Es entsteht der Eindruck der Klarheit, pse_282.028
Überschau, Genauigkeit. In diesem strengen Rahmen können pse_282.029
dann die künstlerischen Einzelheiten, die Bilder, auch die pse_282.030
anderen Stilkräfte eindeutig wirken. Es ist die Bauweise, die pse_282.031
wir aus den großen lateinischen Klassikern kennen, aus der pse_282.032
tragedie classique der Franzosen, auch noch aus Voltaire. Aber pse_282.033
auch Schillers Dramenform, besonders etwa in der "Maria pse_282.034
Stuart" und in der "Braut von Messina" hat diese klar geprägte, pse_282.035
festgefügte Form. Züge davon zeigen sich in Stifters Romanen, pse_282.036
vor allem aber in den Romanen Thomas Manns. Auch die pse_282.037
Barockromane erkennen wir heute als Vertreter dieser Form: pse_282.038
sie weisen einen bis ins letzte durchdachten und durchkonstruierten

pse_282.001
Organismen um Wachstum, bei Kunstwerken um sogenannte pse_282.002
Integration handelt, d. h. um das Zusammenfügen von Gliedern pse_282.003
aus überwölbenden Prinzipien, die geistiger Art sind.

pse_282.004
In der Überlegung, welcher Art nun wirklich die Ganzheit pse_282.005
einer Dichtung ist, vergißt man allzuleicht, daß ja nicht alle pse_282.006
Dichtungen gleich gebaut sind. In der Struktur der einzelnen pse_282.007
Dichtungen kann man in dieser Hinsicht auch verschiedene pse_282.008
Typen erkennen. Sie sind bis zu einem gewissen Grade vorgebildet pse_282.009
in den Typen, die einst Walzel in bezug auf die Gesamtstruktur pse_282.010
von Dichtungen aufgestellt hat: eine statischromanische pse_282.011
Form, die gleichsam den gesamten Gehalt aus pse_282.012
dem flutenden Leben in abstrakt-geistige Räume hinaufhebt. pse_282.013
Hier könnte man mit Vorsicht den Ausdruck Konstruktion pse_282.014
gebrauchen, ohne für Dichtung gleich einen Unwert damit pse_282.015
zu verbinden. Es handelt sich nicht um die Art der Entstehung pse_282.016
und Ausführung der Dichtung, sondern um die Aufbauart pse_282.017
des vollendeten Werks. Es erscheint als streng durchdachtes pse_282.018
Gebilde. Die einzelnen Glieder sind in beinahe rationaler pse_282.019
Weise eingebaut und haben ihren strengen Sinn im Ganzen. pse_282.020
Die Fügung ist auch sprachlich insofern erkennbar, als bestimmte pse_282.021
Worte die geistigen, ja sogar die logischen Beziehungen pse_282.022
festhalten. Symmetrie und Bauweise nach Zahlenverhältnissen, pse_282.023
wie wir sie früher erwähnt haben, gehören auch pse_282.024
hieher. Da gibt es keine Unklarheit, keine Verschwommenheit, pse_282.025
kaum unmerkliche Übergänge. Solche Bauweise, die in pse_282.026
den Worten Konstruktion und Komposition angedeutet ist, pse_282.027
hat ihre hohen Werte. Es entsteht der Eindruck der Klarheit, pse_282.028
Überschau, Genauigkeit. In diesem strengen Rahmen können pse_282.029
dann die künstlerischen Einzelheiten, die Bilder, auch die pse_282.030
anderen Stilkräfte eindeutig wirken. Es ist die Bauweise, die pse_282.031
wir aus den großen lateinischen Klassikern kennen, aus der pse_282.032
tragédie classique der Franzosen, auch noch aus Voltaire. Aber pse_282.033
auch Schillers Dramenform, besonders etwa in der »Maria pse_282.034
Stuart« und in der »Braut von Messina« hat diese klar geprägte, pse_282.035
festgefügte Form. Züge davon zeigen sich in Stifters Romanen, pse_282.036
vor allem aber in den Romanen Thomas Manns. Auch die pse_282.037
Barockromane erkennen wir heute als Vertreter dieser Form: pse_282.038
sie weisen einen bis ins letzte durchdachten und durchkonstruierten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0298" n="282"/><lb n="pse_282.001"/>
Organismen um Wachstum, bei Kunstwerken um sogenannte <lb n="pse_282.002"/>
Integration handelt, d. h. um das Zusammenfügen von Gliedern <lb n="pse_282.003"/>
aus überwölbenden Prinzipien, die geistiger Art sind.</p>
              <p><lb n="pse_282.004"/>
In der Überlegung, welcher Art nun wirklich die Ganzheit <lb n="pse_282.005"/>
einer Dichtung ist, vergißt man allzuleicht, daß ja nicht alle <lb n="pse_282.006"/>
Dichtungen gleich gebaut sind. In der Struktur der einzelnen <lb n="pse_282.007"/>
Dichtungen kann man in dieser Hinsicht auch verschiedene <lb n="pse_282.008"/>
Typen erkennen. Sie sind bis zu einem gewissen Grade vorgebildet <lb n="pse_282.009"/>
in den Typen, die einst Walzel in bezug auf die Gesamtstruktur <lb n="pse_282.010"/>
von Dichtungen aufgestellt hat: eine statischromanische <lb n="pse_282.011"/>
Form, die gleichsam den gesamten Gehalt aus <lb n="pse_282.012"/>
dem flutenden Leben in abstrakt-geistige Räume hinaufhebt. <lb n="pse_282.013"/>
Hier könnte man mit Vorsicht den Ausdruck Konstruktion <lb n="pse_282.014"/>
gebrauchen, ohne für Dichtung gleich einen Unwert damit <lb n="pse_282.015"/>
zu verbinden. Es handelt sich nicht um die Art der Entstehung <lb n="pse_282.016"/>
und Ausführung der Dichtung, sondern um die Aufbauart <lb n="pse_282.017"/>
des vollendeten Werks. Es erscheint als streng durchdachtes <lb n="pse_282.018"/>
Gebilde. Die einzelnen Glieder sind in beinahe rationaler <lb n="pse_282.019"/>
Weise eingebaut und haben ihren strengen Sinn im Ganzen. <lb n="pse_282.020"/>
Die Fügung ist auch sprachlich insofern erkennbar, als bestimmte <lb n="pse_282.021"/>
Worte die geistigen, ja sogar die logischen Beziehungen <lb n="pse_282.022"/>
festhalten. Symmetrie und Bauweise nach Zahlenverhältnissen, <lb n="pse_282.023"/>
wie wir sie früher erwähnt haben, gehören auch <lb n="pse_282.024"/>
hieher. Da gibt es keine Unklarheit, keine Verschwommenheit, <lb n="pse_282.025"/>
kaum unmerkliche Übergänge. Solche Bauweise, die in <lb n="pse_282.026"/>
den Worten Konstruktion und Komposition angedeutet ist, <lb n="pse_282.027"/>
hat ihre hohen Werte. Es entsteht der Eindruck der Klarheit, <lb n="pse_282.028"/>
Überschau, Genauigkeit. In diesem strengen Rahmen können <lb n="pse_282.029"/>
dann die künstlerischen Einzelheiten, die Bilder, auch die <lb n="pse_282.030"/>
anderen Stilkräfte eindeutig wirken. Es ist die Bauweise, die <lb n="pse_282.031"/>
wir aus den großen lateinischen Klassikern kennen, aus der <lb n="pse_282.032"/>
tragédie classique der Franzosen, auch noch aus Voltaire. Aber <lb n="pse_282.033"/>
auch Schillers Dramenform, besonders etwa in der »Maria <lb n="pse_282.034"/>
Stuart« und in der »Braut von Messina« hat diese klar geprägte, <lb n="pse_282.035"/>
festgefügte Form. Züge davon zeigen sich in Stifters Romanen, <lb n="pse_282.036"/>
vor allem aber in den Romanen Thomas Manns. Auch die <lb n="pse_282.037"/>
Barockromane erkennen wir heute als Vertreter dieser Form: <lb n="pse_282.038"/>
sie weisen einen bis ins letzte durchdachten und durchkonstruierten
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[282/0298] pse_282.001 Organismen um Wachstum, bei Kunstwerken um sogenannte pse_282.002 Integration handelt, d. h. um das Zusammenfügen von Gliedern pse_282.003 aus überwölbenden Prinzipien, die geistiger Art sind. pse_282.004 In der Überlegung, welcher Art nun wirklich die Ganzheit pse_282.005 einer Dichtung ist, vergißt man allzuleicht, daß ja nicht alle pse_282.006 Dichtungen gleich gebaut sind. In der Struktur der einzelnen pse_282.007 Dichtungen kann man in dieser Hinsicht auch verschiedene pse_282.008 Typen erkennen. Sie sind bis zu einem gewissen Grade vorgebildet pse_282.009 in den Typen, die einst Walzel in bezug auf die Gesamtstruktur pse_282.010 von Dichtungen aufgestellt hat: eine statischromanische pse_282.011 Form, die gleichsam den gesamten Gehalt aus pse_282.012 dem flutenden Leben in abstrakt-geistige Räume hinaufhebt. pse_282.013 Hier könnte man mit Vorsicht den Ausdruck Konstruktion pse_282.014 gebrauchen, ohne für Dichtung gleich einen Unwert damit pse_282.015 zu verbinden. Es handelt sich nicht um die Art der Entstehung pse_282.016 und Ausführung der Dichtung, sondern um die Aufbauart pse_282.017 des vollendeten Werks. Es erscheint als streng durchdachtes pse_282.018 Gebilde. Die einzelnen Glieder sind in beinahe rationaler pse_282.019 Weise eingebaut und haben ihren strengen Sinn im Ganzen. pse_282.020 Die Fügung ist auch sprachlich insofern erkennbar, als bestimmte pse_282.021 Worte die geistigen, ja sogar die logischen Beziehungen pse_282.022 festhalten. Symmetrie und Bauweise nach Zahlenverhältnissen, pse_282.023 wie wir sie früher erwähnt haben, gehören auch pse_282.024 hieher. Da gibt es keine Unklarheit, keine Verschwommenheit, pse_282.025 kaum unmerkliche Übergänge. Solche Bauweise, die in pse_282.026 den Worten Konstruktion und Komposition angedeutet ist, pse_282.027 hat ihre hohen Werte. Es entsteht der Eindruck der Klarheit, pse_282.028 Überschau, Genauigkeit. In diesem strengen Rahmen können pse_282.029 dann die künstlerischen Einzelheiten, die Bilder, auch die pse_282.030 anderen Stilkräfte eindeutig wirken. Es ist die Bauweise, die pse_282.031 wir aus den großen lateinischen Klassikern kennen, aus der pse_282.032 tragédie classique der Franzosen, auch noch aus Voltaire. Aber pse_282.033 auch Schillers Dramenform, besonders etwa in der »Maria pse_282.034 Stuart« und in der »Braut von Messina« hat diese klar geprägte, pse_282.035 festgefügte Form. Züge davon zeigen sich in Stifters Romanen, pse_282.036 vor allem aber in den Romanen Thomas Manns. Auch die pse_282.037 Barockromane erkennen wir heute als Vertreter dieser Form: pse_282.038 sie weisen einen bis ins letzte durchdachten und durchkonstruierten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/298
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/298>, abgerufen am 21.11.2024.