pse_284.001 Walzel spricht noch von einer gotischen Form. Hier geht es pse_284.002 um die Heftigkeit, mit der sich die Glieder aneinander fügen, pse_284.003 jeder Neuansatz ist deutlich gekennzeichnet, aber nicht durch pse_284.004 eine logische Verbindung, sondern durch Sprünge, durch pse_284.005 Steigerungen, wie sie zugleich Ausdruck starker Wallungen, pse_284.006 plötzlicher Affektausbrüche sind. Die Bauform des Expressionismus pse_284.007 dürfte das deutlichste Beispiel sein. In dieser Gestaltung pse_284.008 kommt es am ehesten zu Zerreißungen und Brüchen.
pse_284.009 Es ist mit dieser Andeutung dreier Typen von Aufbau pse_284.010 nicht gesagt, daß es alle Möglichkeiten sind, oder daß es nicht pse_284.011 Verflechtungen, Mischungen gäbe. Sie zeigen aber, daß es pse_284.012 kaum angeht, nur mit dem Begriff des Organismus dem pse_284.013 künstlerischen Aufbau von Dichtungen nahezukommen.
pse_284.014 Gestaltungsebenen
pse_284.015 Vergleichen wir ein kräftiges Mundartgedicht aus der Bergbauernwelt pse_284.016 mit einer Hymne von Hölderlin, eine naturalistische pse_284.017 Prosaerzählung aus der Welt des armen Fabrikarbeiters pse_284.018 mit einer Renaissance-Novelle von C. F. Meyer oder eine der pse_284.019 glänzenden Possen Nestroys aus der Wiener Vorstadt mit pse_284.020 Goethes "Iphigenie": die künstlerische Vollendung muß nicht pse_284.021 notwendig einen Unterschied machen, aber die künstlerischen pse_284.022 Ebenen sind stark und eindeutig voneinander geschieden. Mit pse_284.023 ihnen und durch sie unterscheiden sich auch die inneren Haltungen, pse_284.024 die Art der Gemüthaftigkeit. Wir sprechen von pse_284.025 Gestaltungsebenen.
pse_284.026 Wir können mit einem kurzen geschichtlichen Blick beginnen. pse_284.027 Schon im Altertum kannte man drei solcher Gestaltungsebenen pse_284.028 oder Stilarten, wie man sich auch ausdrückt. Man pse_284.029 vermutet, daß Theophrast als erster sie festgehalten hat. Auf pse_284.030 alle Fälle sprechen sich Cicero im "Orator" und dann später pse_284.031 Quintilian deutlich darüber aus. Sie unterscheiden drei genera pse_284.032 dicendi: das genus humile, das genus medium und das genus pse_284.033 sublime. Cicero beschreibt sie mit einer Fülle von näheren pse_284.034 Einzelbestimmungen. Statt humile heißt es auch tenue oder pse_284.035 subtile, statt medium mediocre oder floridum, statt sublime
pse_284.001 Walzel spricht noch von einer gotischen Form. Hier geht es pse_284.002 um die Heftigkeit, mit der sich die Glieder aneinander fügen, pse_284.003 jeder Neuansatz ist deutlich gekennzeichnet, aber nicht durch pse_284.004 eine logische Verbindung, sondern durch Sprünge, durch pse_284.005 Steigerungen, wie sie zugleich Ausdruck starker Wallungen, pse_284.006 plötzlicher Affektausbrüche sind. Die Bauform des Expressionismus pse_284.007 dürfte das deutlichste Beispiel sein. In dieser Gestaltung pse_284.008 kommt es am ehesten zu Zerreißungen und Brüchen.
pse_284.009 Es ist mit dieser Andeutung dreier Typen von Aufbau pse_284.010 nicht gesagt, daß es alle Möglichkeiten sind, oder daß es nicht pse_284.011 Verflechtungen, Mischungen gäbe. Sie zeigen aber, daß es pse_284.012 kaum angeht, nur mit dem Begriff des Organismus dem pse_284.013 künstlerischen Aufbau von Dichtungen nahezukommen.
pse_284.014 Gestaltungsebenen
pse_284.015 Vergleichen wir ein kräftiges Mundartgedicht aus der Bergbauernwelt pse_284.016 mit einer Hymne von Hölderlin, eine naturalistische pse_284.017 Prosaerzählung aus der Welt des armen Fabrikarbeiters pse_284.018 mit einer Renaissance-Novelle von C. F. Meyer oder eine der pse_284.019 glänzenden Possen Nestroys aus der Wiener Vorstadt mit pse_284.020 Goethes »Iphigenie«: die künstlerische Vollendung muß nicht pse_284.021 notwendig einen Unterschied machen, aber die künstlerischen pse_284.022 Ebenen sind stark und eindeutig voneinander geschieden. Mit pse_284.023 ihnen und durch sie unterscheiden sich auch die inneren Haltungen, pse_284.024 die Art der Gemüthaftigkeit. Wir sprechen von pse_284.025 Gestaltungsebenen.
pse_284.026 Wir können mit einem kurzen geschichtlichen Blick beginnen. pse_284.027 Schon im Altertum kannte man drei solcher Gestaltungsebenen pse_284.028 oder Stilarten, wie man sich auch ausdrückt. Man pse_284.029 vermutet, daß Theophrast als erster sie festgehalten hat. Auf pse_284.030 alle Fälle sprechen sich Cicero im »Orator« und dann später pse_284.031 Quintilian deutlich darüber aus. Sie unterscheiden drei genera pse_284.032 dicendi: das genus humile, das genus medium und das genus pse_284.033 sublime. Cicero beschreibt sie mit einer Fülle von näheren pse_284.034 Einzelbestimmungen. Statt humile heißt es auch tenue oder pse_284.035 subtile, statt medium mediocre oder floridum, statt sublime
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0300"n="284"/><p><lbn="pse_284.001"/>
Walzel spricht noch von einer gotischen Form. Hier geht es <lbn="pse_284.002"/>
um die Heftigkeit, mit der sich die Glieder aneinander fügen, <lbn="pse_284.003"/>
jeder Neuansatz ist deutlich gekennzeichnet, aber nicht durch <lbn="pse_284.004"/>
eine logische Verbindung, sondern durch Sprünge, durch <lbn="pse_284.005"/>
Steigerungen, wie sie zugleich Ausdruck starker Wallungen, <lbn="pse_284.006"/>
plötzlicher Affektausbrüche sind. Die Bauform des Expressionismus <lbn="pse_284.007"/>
dürfte das deutlichste Beispiel sein. In dieser Gestaltung <lbn="pse_284.008"/>
kommt es am ehesten zu Zerreißungen und Brüchen.</p><p><lbn="pse_284.009"/>
Es ist mit dieser Andeutung dreier Typen von Aufbau <lbn="pse_284.010"/>
nicht gesagt, daß es alle Möglichkeiten sind, oder daß es nicht <lbn="pse_284.011"/>
Verflechtungen, Mischungen gäbe. Sie zeigen aber, daß es <lbn="pse_284.012"/>
kaum angeht, nur mit dem Begriff des Organismus dem <lbn="pse_284.013"/>
künstlerischen Aufbau von Dichtungen nahezukommen.</p></div></div><divn="3"><lbn="pse_284.014"/><head><hirendition="#c"><hirendition="#i">Gestaltungsebenen</hi></hi></head><p><lbn="pse_284.015"/>
Vergleichen wir ein kräftiges Mundartgedicht aus der Bergbauernwelt <lbn="pse_284.016"/>
mit einer Hymne von Hölderlin, eine naturalistische <lbn="pse_284.017"/>
Prosaerzählung aus der Welt des armen Fabrikarbeiters <lbn="pse_284.018"/>
mit einer Renaissance-Novelle von C. F. Meyer oder eine der <lbn="pse_284.019"/>
glänzenden Possen Nestroys aus der Wiener Vorstadt mit <lbn="pse_284.020"/>
Goethes »Iphigenie«: die künstlerische Vollendung muß nicht <lbn="pse_284.021"/>
notwendig einen Unterschied machen, aber die künstlerischen <lbn="pse_284.022"/>
Ebenen sind stark und eindeutig voneinander geschieden. Mit <lbn="pse_284.023"/>
ihnen und durch sie unterscheiden sich auch die inneren Haltungen, <lbn="pse_284.024"/>
die Art der Gemüthaftigkeit. Wir sprechen von <lbn="pse_284.025"/>
Gestaltungsebenen.</p><p><lbn="pse_284.026"/>
Wir können mit einem kurzen geschichtlichen Blick beginnen. <lbn="pse_284.027"/>
Schon im Altertum kannte man drei solcher Gestaltungsebenen <lbn="pse_284.028"/>
oder Stilarten, wie man sich auch ausdrückt. Man <lbn="pse_284.029"/>
vermutet, daß Theophrast als erster sie festgehalten hat. Auf <lbn="pse_284.030"/>
alle Fälle sprechen sich Cicero im »Orator« und dann später <lbn="pse_284.031"/>
Quintilian deutlich darüber aus. Sie unterscheiden drei genera <lbn="pse_284.032"/>
dicendi: das genus humile, das genus medium und das genus <lbn="pse_284.033"/>
sublime. Cicero beschreibt sie mit einer Fülle von näheren <lbn="pse_284.034"/>
Einzelbestimmungen. Statt humile heißt es auch tenue oder <lbn="pse_284.035"/>
subtile, statt medium mediocre oder floridum, statt sublime
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[284/0300]
pse_284.001
Walzel spricht noch von einer gotischen Form. Hier geht es pse_284.002
um die Heftigkeit, mit der sich die Glieder aneinander fügen, pse_284.003
jeder Neuansatz ist deutlich gekennzeichnet, aber nicht durch pse_284.004
eine logische Verbindung, sondern durch Sprünge, durch pse_284.005
Steigerungen, wie sie zugleich Ausdruck starker Wallungen, pse_284.006
plötzlicher Affektausbrüche sind. Die Bauform des Expressionismus pse_284.007
dürfte das deutlichste Beispiel sein. In dieser Gestaltung pse_284.008
kommt es am ehesten zu Zerreißungen und Brüchen.
pse_284.009
Es ist mit dieser Andeutung dreier Typen von Aufbau pse_284.010
nicht gesagt, daß es alle Möglichkeiten sind, oder daß es nicht pse_284.011
Verflechtungen, Mischungen gäbe. Sie zeigen aber, daß es pse_284.012
kaum angeht, nur mit dem Begriff des Organismus dem pse_284.013
künstlerischen Aufbau von Dichtungen nahezukommen.
pse_284.014
Gestaltungsebenen pse_284.015
Vergleichen wir ein kräftiges Mundartgedicht aus der Bergbauernwelt pse_284.016
mit einer Hymne von Hölderlin, eine naturalistische pse_284.017
Prosaerzählung aus der Welt des armen Fabrikarbeiters pse_284.018
mit einer Renaissance-Novelle von C. F. Meyer oder eine der pse_284.019
glänzenden Possen Nestroys aus der Wiener Vorstadt mit pse_284.020
Goethes »Iphigenie«: die künstlerische Vollendung muß nicht pse_284.021
notwendig einen Unterschied machen, aber die künstlerischen pse_284.022
Ebenen sind stark und eindeutig voneinander geschieden. Mit pse_284.023
ihnen und durch sie unterscheiden sich auch die inneren Haltungen, pse_284.024
die Art der Gemüthaftigkeit. Wir sprechen von pse_284.025
Gestaltungsebenen.
pse_284.026
Wir können mit einem kurzen geschichtlichen Blick beginnen. pse_284.027
Schon im Altertum kannte man drei solcher Gestaltungsebenen pse_284.028
oder Stilarten, wie man sich auch ausdrückt. Man pse_284.029
vermutet, daß Theophrast als erster sie festgehalten hat. Auf pse_284.030
alle Fälle sprechen sich Cicero im »Orator« und dann später pse_284.031
Quintilian deutlich darüber aus. Sie unterscheiden drei genera pse_284.032
dicendi: das genus humile, das genus medium und das genus pse_284.033
sublime. Cicero beschreibt sie mit einer Fülle von näheren pse_284.034
Einzelbestimmungen. Statt humile heißt es auch tenue oder pse_284.035
subtile, statt medium mediocre oder floridum, statt sublime
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/300>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.