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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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der Weltauffassung macht es einen Unterschied aus, ob man pse_286.002
ganz nahe an der Wirklichkeit verbleibt oder ins Wesen vorzudringen pse_286.003
sucht, ob man die Welt von der heiteren oder pse_286.004
ernsten Seite sieht. Vor allem aber zeigen sich die Unterschiede pse_286.005
in allen Stilzügen: im Wortschatz, in der Art der pse_286.006
Fügung, im Satzbau und besonders in den sprachlichen Bildern. pse_286.007
Aber auch im Aufbau werden sich solche Haltungen pse_286.008
zeigen, wie sie die lateinischen Ausdrücke docere, delectare pse_286.009
und movere meinen. Wir unterscheiden zunächst im großen pse_286.010
einen derben, einen mittleren und einen erhabenen Stil. pse_286.011
Diese Einteilung geht von einer mittleren Haltung aus, überbaut pse_286.012
sie durch eine gehobene, dem Alltag entstiegene und pse_286.013
setzt eine gegenteilige darunter.

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Die derbe Gestaltungsebene ist uns besonders durch den pse_286.015
Naturalismus nahegebracht worden. Aber sie findet sich nicht pse_286.016
nur da. Man denke an die Pförtnerszene im "Macbeth", an pse_286.017
manches in der Barockdichtung. Vor allem der Sturm und pse_286.018
Drang hat immer wieder zu ihr gegriffen. Schweizer in pse_286.019
Schillers "Räuber" sagt einmal (2/3): "Ha! ich will ihnen mit pse_286.020
meinen Fangern den Bauch schlitzen, daß ihnen die Kutteln pse_286.021
schuhlang herausplatzen!" Dieses kräftige Bild greift Wirklichkeitsbereiche pse_286.022
auf, die man für gewöhnlich im Gespräch pse_286.023
vermeidet, und treibt sie mit einer Unbekümmertheit heraus, pse_286.024
daß mit aller Kraft das Wesen solcher Seiten der Wirklichkeit pse_286.025
lebendig wird. Die Derbheit ist hier stärkste Vitalität, die also pse_286.026
gerade aus den untersten Bereichen des Lebens ihre Gestaltungsmittel pse_286.027
nimmt. Es kann auch ein anderer Ton mitklingen. pse_286.028
Der Leitspruch zu Weinhebers Sammlung "Wien wörtlich" pse_286.029
endet mit den Versen:

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Des hoat kan Goethe geschriebn, des hoat kan Schiller dicht; pse_286.031
is von kan Klassiker, von kan Genie, pse_286.032
des is a Weaner, der mit unsern Göscherl spricht, pse_286.033
und segn S', erst des is für uns Poesie.
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Hier ist die Derbheit nicht mehr Ausdruck ungebundener pse_286.035
Vitalität, sondern einer proletenhaften Haltung mit deutlich pse_286.036
sozialem Unterton. Mundartdichtung muß nicht immer pse_286.037
dieser Ebene angehören -- man denke an die ernsten Erzählungen

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der Weltauffassung macht es einen Unterschied aus, ob man pse_286.002
ganz nahe an der Wirklichkeit verbleibt oder ins Wesen vorzudringen pse_286.003
sucht, ob man die Welt von der heiteren oder pse_286.004
ernsten Seite sieht. Vor allem aber zeigen sich die Unterschiede pse_286.005
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sie durch eine gehobene, dem Alltag entstiegene und pse_286.013
setzt eine gegenteilige darunter.

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Die derbe Gestaltungsebene ist uns besonders durch den pse_286.015
Naturalismus nahegebracht worden. Aber sie findet sich nicht pse_286.016
nur da. Man denke an die Pförtnerszene im »Macbeth«, an pse_286.017
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schuhlang herausplatzen!« Dieses kräftige Bild greift Wirklichkeitsbereiche pse_286.022
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lebendig wird. Die Derbheit ist hier stärkste Vitalität, die also pse_286.026
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Der Leitspruch zu Weinhebers Sammlung »Wien wörtlich« pse_286.029
endet mit den Versen:

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Des ho̊at kan Goethe geschriebn, des ho̊at kan Schiller dicht; pse_286.031
is von kan Klassiker, von kan Genie, pse_286.032
des is a Weaner, der mit unsern Göscherl spricht, pse_286.033
und segn S', erst des is für uns Poesie.
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Hier ist die Derbheit nicht mehr Ausdruck ungebundener pse_286.035
Vitalität, sondern einer proletenhaften Haltung mit deutlich pse_286.036
sozialem Unterton. Mundartdichtung muß nicht immer pse_286.037
dieser Ebene angehören — man denke an die ernsten Erzählungen

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/302>, abgerufen am 21.11.2024.