pse_363.001 Aber wenn die Tradition im 19. Jahrhundert nicht pse_363.002 mehr so stark band, in bestimmter Weise gilt sie immer. pse_363.003 Kaum, daß ein Dichter einfach drauflos dichtet, sondern er pse_363.004 schreibt ein Gedicht, ein Sonett, eine short story, eine Novelle, pse_363.005 einen Roman oder ein Theaterstück. Und gerade dann, wenn pse_363.006 etwa der Roman heute neue Formen aufweist, so ist es schon pse_363.007 bezeichnend, daß er noch so heißt, und auf alle Fälle hebt pse_363.008 sich der Dichter in der neuen Gestaltungsart bewußt von der pse_363.009 früheren Form ab, sie wirkt also gleichsam negativ. Dasselbe pse_363.010 bei den neuen Versuchen auf dem Theater. Sie entstehen in pse_363.011 bewußter Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Formen. pse_363.012 Es scheint also heute kaum noch möglich, daß sich eine pse_363.013 Dichtung ganz außerhalb des Rahmens bestimmter Gattungen pse_363.014 stellt. Das beweist nicht nur die Kraft der Tradition, pse_363.015 sondern auch, daß die Gattungen doch nicht bloß geschichtlich pse_363.016 gebundene und konventionelle Gebilde sind. Sehr stark pse_363.017 wirkt auch die Theorie auf das dichterische Schaffen. Man pse_363.018 weiß, wie sich Goethe und Schiller um die Grundgesetze pse_363.019 des epischen und des dramatischen Schaffens bemüht haben pse_363.020 und wie ihre theoretischen Überlegungen geradezu zur pse_363.021 Sicherung ihres dichterischen Schaffens gewachsen sind. Man pse_363.022 denkt zugleich an die Theorien von Opitz und Gottsched, pse_363.023 die für die Dichter der Zeit bis zu gewissem Grade bindend pse_363.024 waren. Besonders lehrreich ist das, was neuere Forschungen pse_363.025 zur Novellendichtung der romanischen Länder herausgearbeitet pse_363.026 haben (Pabst). Es bestand seit dem späten Mittelalter pse_363.027 und bis hinein ins 18. Jahrhundert eine reiche und genau pse_363.028 ausgebaute Theorie der Novelle in den romanischen Ländern. pse_363.029 Die Fülle der Poetiken in diesen Jahrhunderten ist ja überhaupt pse_363.030 bezeichnend. Und nun kann man beobachten: die pse_363.031 kleineren Dichter, die unsicheren von geringer persönlicher pse_363.032 Schöpferkraft, richten sich ziemlich genau nach den Lehren. pse_363.033 Die großen aber, Boccaccio, Cervantes, Margarete von Navarra pse_363.034 und La Fontaine, suchen sich den Vorschriften zu entziehen. pse_363.035 Man konnte zeigen, daß sie das in sehr starkem Maße pse_363.036 getan haben, ja daß sie vielfach die Vorschriften in ihrem dichterischen pse_363.037 Schaffen geradezu ins Gegenteil verwandelt haben; pse_363.038 besonders gilt das für die Vorschriften, daß der Novellendichter
pse_363.001 Aber wenn die Tradition im 19. Jahrhundert nicht pse_363.002 mehr so stark band, in bestimmter Weise gilt sie immer. pse_363.003 Kaum, daß ein Dichter einfach drauflos dichtet, sondern er pse_363.004 schreibt ein Gedicht, ein Sonett, eine short story, eine Novelle, pse_363.005 einen Roman oder ein Theaterstück. Und gerade dann, wenn pse_363.006 etwa der Roman heute neue Formen aufweist, so ist es schon pse_363.007 bezeichnend, daß er noch so heißt, und auf alle Fälle hebt pse_363.008 sich der Dichter in der neuen Gestaltungsart bewußt von der pse_363.009 früheren Form ab, sie wirkt also gleichsam negativ. Dasselbe pse_363.010 bei den neuen Versuchen auf dem Theater. Sie entstehen in pse_363.011 bewußter Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Formen. pse_363.012 Es scheint also heute kaum noch möglich, daß sich eine pse_363.013 Dichtung ganz außerhalb des Rahmens bestimmter Gattungen pse_363.014 stellt. Das beweist nicht nur die Kraft der Tradition, pse_363.015 sondern auch, daß die Gattungen doch nicht bloß geschichtlich pse_363.016 gebundene und konventionelle Gebilde sind. Sehr stark pse_363.017 wirkt auch die Theorie auf das dichterische Schaffen. Man pse_363.018 weiß, wie sich Goethe und Schiller um die Grundgesetze pse_363.019 des epischen und des dramatischen Schaffens bemüht haben pse_363.020 und wie ihre theoretischen Überlegungen geradezu zur pse_363.021 Sicherung ihres dichterischen Schaffens gewachsen sind. Man pse_363.022 denkt zugleich an die Theorien von Opitz und Gottsched, pse_363.023 die für die Dichter der Zeit bis zu gewissem Grade bindend pse_363.024 waren. Besonders lehrreich ist das, was neuere Forschungen pse_363.025 zur Novellendichtung der romanischen Länder herausgearbeitet pse_363.026 haben (Pabst). Es bestand seit dem späten Mittelalter pse_363.027 und bis hinein ins 18. Jahrhundert eine reiche und genau pse_363.028 ausgebaute Theorie der Novelle in den romanischen Ländern. pse_363.029 Die Fülle der Poetiken in diesen Jahrhunderten ist ja überhaupt pse_363.030 bezeichnend. Und nun kann man beobachten: die pse_363.031 kleineren Dichter, die unsicheren von geringer persönlicher pse_363.032 Schöpferkraft, richten sich ziemlich genau nach den Lehren. pse_363.033 Die großen aber, Boccaccio, Cervantes, Margarete von Navarra pse_363.034 und La Fontaine, suchen sich den Vorschriften zu entziehen. pse_363.035 Man konnte zeigen, daß sie das in sehr starkem Maße pse_363.036 getan haben, ja daß sie vielfach die Vorschriften in ihrem dichterischen pse_363.037 Schaffen geradezu ins Gegenteil verwandelt haben; pse_363.038 besonders gilt das für die Vorschriften, daß der Novellendichter
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Aber wenn die Tradition im 19. Jahrhundert nicht pse_363.002
mehr so stark band, in bestimmter Weise gilt sie immer. pse_363.003
Kaum, daß ein Dichter einfach drauflos dichtet, sondern er pse_363.004
schreibt ein Gedicht, ein Sonett, eine short story, eine Novelle, pse_363.005
einen Roman oder ein Theaterstück. Und gerade dann, wenn pse_363.006
etwa der Roman heute neue Formen aufweist, so ist es schon pse_363.007
bezeichnend, daß er noch so heißt, und auf alle Fälle hebt pse_363.008
sich der Dichter in der neuen Gestaltungsart bewußt von der pse_363.009
früheren Form ab, sie wirkt also gleichsam negativ. Dasselbe pse_363.010
bei den neuen Versuchen auf dem Theater. Sie entstehen in pse_363.011
bewußter Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Formen. pse_363.012
Es scheint also heute kaum noch möglich, daß sich eine pse_363.013
Dichtung ganz außerhalb des Rahmens bestimmter Gattungen pse_363.014
stellt. Das beweist nicht nur die Kraft der Tradition, pse_363.015
sondern auch, daß die Gattungen doch nicht bloß geschichtlich pse_363.016
gebundene und konventionelle Gebilde sind. Sehr stark pse_363.017
wirkt auch die Theorie auf das dichterische Schaffen. Man pse_363.018
weiß, wie sich Goethe und Schiller um die Grundgesetze pse_363.019
des epischen und des dramatischen Schaffens bemüht haben pse_363.020
und wie ihre theoretischen Überlegungen geradezu zur pse_363.021
Sicherung ihres dichterischen Schaffens gewachsen sind. Man pse_363.022
denkt zugleich an die Theorien von Opitz und Gottsched, pse_363.023
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zur Novellendichtung der romanischen Länder herausgearbeitet pse_363.026
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und bis hinein ins 18. Jahrhundert eine reiche und genau pse_363.028
ausgebaute Theorie der Novelle in den romanischen Ländern. pse_363.029
Die Fülle der Poetiken in diesen Jahrhunderten ist ja überhaupt pse_363.030
bezeichnend. Und nun kann man beobachten: die pse_363.031
kleineren Dichter, die unsicheren von geringer persönlicher pse_363.032
Schöpferkraft, richten sich ziemlich genau nach den Lehren. pse_363.033
Die großen aber, Boccaccio, Cervantes, Margarete von Navarra pse_363.034
und La Fontaine, suchen sich den Vorschriften zu entziehen. pse_363.035
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besonders gilt das für die Vorschriften, daß der Novellendichter
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/379>, abgerufen am 21.11.2024.
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