Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_365.001
sie zerbrechen ganz öffentlich als Revolutionäre alle Regeln. pse_365.002
Das tut die gesamteuropäische Romantik weitgehend mit den pse_365.003
strengen Gattungsgesetzen. So erscheinen die Theorien als pse_365.004
geschichtliche Kräfte, die binden, anregen, hindern und abstoßen. pse_365.005
Aber es bleibt zu fragen: wie kommt es z. B. zu einer pse_365.006
Theorie der Novelle oder der Tragödie? Liegen da nur geschichtliche pse_365.007
Ursachen vor? Oder spiegelt sich in den Theorien pse_365.008
und ihren Ausdifferenzierungen nicht irgendwie das dunkle pse_365.009
Wissen, das Ahnen von bestimmten, im schöpferischen Menschen pse_365.010
und seiner Auseinandersetzung mit der Welt begründeten pse_365.011
Urformen dichterischen Schaffens? Man müßte den pse_365.012
Ursprüngen und Anfängen der Regeln und Theorien genau pse_365.013
nachgehen, um darüber Aufschlüsse zu erhalten. 2. Der früher pse_365.014
angeführte Satz, daß La Fontaines "Contes et Nouvelles" pse_365.015
zwar den Formen der Novelle nicht entsprechen, aber trotzdem pse_365.016
zu den schönsten Erzeugnissen der Novellistik gehören, pse_365.017
heißt genau besehen folgendes: Diese Dichtungen entsprechen pse_365.018
nicht den historisch in ganz konkreten Zusammenhängen pse_365.019
ausgebauten Regeln für theoretisch formierte Gattungen, pse_365.020
aber in ihnen wirken sich Urangelegenheiten dichterischen pse_365.021
Schaffens aus, Grundformen einer bestimmten Art pse_365.022
des Erzählens. Denn man kann nicht annehmen, daß der Forscher, pse_365.023
der diesen Ausdruck Novellistik verwendet, ihn bloß pse_365.024
als Sammelnamen für kurze Erzählungen nimmt; dann hätte pse_365.025
er doch ebensogut sagen können: sie gehören zu den schönsten pse_365.026
Erzählungen der Weltliteratur. Aber das meint er nicht. pse_365.027
An diesem Punkt spüren wir die theoretisch nie völlig auflösbare pse_365.028
Verstricktheit geschichtlich bedingter und geregelter pse_365.029
Formen und dichterischer Schöpfungsarten, die aus -- wagen pse_365.030
wir den Ausdruck -- ewigen Grundrichtungen sprachkünstlerischen pse_365.031
Antwortens auf die Welt hervorgehen.

pse_365.032
Die geschichtliche Gebundenheit dichterischer Arten zeigt pse_365.033
sich auch noch in einem anderen. In gewissen Epochen bilden pse_365.034
sich ganz besondere Arten aus und erreichen da eine hohe pse_365.035
Vollkommenheit. So die Legendendichtung im Mittelalter, pse_365.036
das Sonett in der italienischen Frührenaissance und dann in pse_365.037
der Barockdichtung, eine bestimmte Dramenform im Zeitalter pse_365.038
Elisabeths mit ihrem Höhepunkt Shakespeare; weiter der

pse_365.001
sie zerbrechen ganz öffentlich als Revolutionäre alle Regeln. pse_365.002
Das tut die gesamteuropäische Romantik weitgehend mit den pse_365.003
strengen Gattungsgesetzen. So erscheinen die Theorien als pse_365.004
geschichtliche Kräfte, die binden, anregen, hindern und abstoßen. pse_365.005
Aber es bleibt zu fragen: wie kommt es z. B. zu einer pse_365.006
Theorie der Novelle oder der Tragödie? Liegen da nur geschichtliche pse_365.007
Ursachen vor? Oder spiegelt sich in den Theorien pse_365.008
und ihren Ausdifferenzierungen nicht irgendwie das dunkle pse_365.009
Wissen, das Ahnen von bestimmten, im schöpferischen Menschen pse_365.010
und seiner Auseinandersetzung mit der Welt begründeten pse_365.011
Urformen dichterischen Schaffens? Man müßte den pse_365.012
Ursprüngen und Anfängen der Regeln und Theorien genau pse_365.013
nachgehen, um darüber Aufschlüsse zu erhalten. 2. Der früher pse_365.014
angeführte Satz, daß La Fontaines »Contes et Nouvelles« pse_365.015
zwar den Formen der Novelle nicht entsprechen, aber trotzdem pse_365.016
zu den schönsten Erzeugnissen der Novellistik gehören, pse_365.017
heißt genau besehen folgendes: Diese Dichtungen entsprechen pse_365.018
nicht den historisch in ganz konkreten Zusammenhängen pse_365.019
ausgebauten Regeln für theoretisch formierte Gattungen, pse_365.020
aber in ihnen wirken sich Urangelegenheiten dichterischen pse_365.021
Schaffens aus, Grundformen einer bestimmten Art pse_365.022
des Erzählens. Denn man kann nicht annehmen, daß der Forscher, pse_365.023
der diesen Ausdruck Novellistik verwendet, ihn bloß pse_365.024
als Sammelnamen für kurze Erzählungen nimmt; dann hätte pse_365.025
er doch ebensogut sagen können: sie gehören zu den schönsten pse_365.026
Erzählungen der Weltliteratur. Aber das meint er nicht. pse_365.027
An diesem Punkt spüren wir die theoretisch nie völlig auflösbare pse_365.028
Verstricktheit geschichtlich bedingter und geregelter pse_365.029
Formen und dichterischer Schöpfungsarten, die aus — wagen pse_365.030
wir den Ausdruck — ewigen Grundrichtungen sprachkünstlerischen pse_365.031
Antwortens auf die Welt hervorgehen.

pse_365.032
Die geschichtliche Gebundenheit dichterischer Arten zeigt pse_365.033
sich auch noch in einem anderen. In gewissen Epochen bilden pse_365.034
sich ganz besondere Arten aus und erreichen da eine hohe pse_365.035
Vollkommenheit. So die Legendendichtung im Mittelalter, pse_365.036
das Sonett in der italienischen Frührenaissance und dann in pse_365.037
der Barockdichtung, eine bestimmte Dramenform im Zeitalter pse_365.038
Elisabeths mit ihrem Höhepunkt Shakespeare; weiter der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0381" n="365"/><lb n="pse_365.001"/>
sie zerbrechen ganz öffentlich als Revolutionäre alle Regeln. <lb n="pse_365.002"/>
Das tut die gesamteuropäische Romantik weitgehend mit den <lb n="pse_365.003"/>
strengen Gattungsgesetzen. So erscheinen die Theorien als <lb n="pse_365.004"/>
geschichtliche Kräfte, die binden, anregen, hindern und abstoßen. <lb n="pse_365.005"/>
Aber es bleibt zu fragen: wie kommt es z. B. zu einer <lb n="pse_365.006"/>
Theorie der Novelle oder der Tragödie? Liegen da nur geschichtliche <lb n="pse_365.007"/>
Ursachen vor? Oder spiegelt sich in den Theorien <lb n="pse_365.008"/>
und ihren Ausdifferenzierungen nicht irgendwie das dunkle <lb n="pse_365.009"/>
Wissen, das Ahnen von bestimmten, im schöpferischen Menschen <lb n="pse_365.010"/>
und seiner Auseinandersetzung mit der Welt begründeten <lb n="pse_365.011"/>
Urformen dichterischen Schaffens? Man müßte den <lb n="pse_365.012"/>
Ursprüngen und Anfängen der Regeln und Theorien genau <lb n="pse_365.013"/>
nachgehen, um darüber Aufschlüsse zu erhalten. 2. Der früher <lb n="pse_365.014"/>
angeführte Satz, daß La Fontaines »Contes et Nouvelles« <lb n="pse_365.015"/>
zwar den Formen der Novelle nicht entsprechen, aber trotzdem <lb n="pse_365.016"/>
zu den schönsten Erzeugnissen der Novellistik gehören, <lb n="pse_365.017"/>
heißt genau besehen folgendes: Diese Dichtungen entsprechen <lb n="pse_365.018"/>
nicht den historisch in ganz konkreten Zusammenhängen <lb n="pse_365.019"/>
ausgebauten Regeln für theoretisch formierte Gattungen, <lb n="pse_365.020"/>
aber in ihnen wirken sich Urangelegenheiten dichterischen <lb n="pse_365.021"/>
Schaffens aus, Grundformen einer bestimmten Art <lb n="pse_365.022"/>
des Erzählens. Denn man kann nicht annehmen, daß der Forscher, <lb n="pse_365.023"/>
der diesen Ausdruck Novellistik verwendet, ihn bloß <lb n="pse_365.024"/>
als Sammelnamen für kurze Erzählungen nimmt; dann hätte <lb n="pse_365.025"/>
er doch ebensogut sagen können: sie gehören zu den schönsten <lb n="pse_365.026"/>
Erzählungen der Weltliteratur. Aber das meint er nicht. <lb n="pse_365.027"/>
An diesem Punkt spüren wir die theoretisch nie völlig auflösbare <lb n="pse_365.028"/>
Verstricktheit geschichtlich bedingter und geregelter <lb n="pse_365.029"/>
Formen und dichterischer Schöpfungsarten, die aus &#x2014; wagen <lb n="pse_365.030"/>
wir den Ausdruck &#x2014; ewigen Grundrichtungen sprachkünstlerischen <lb n="pse_365.031"/>
Antwortens auf die Welt hervorgehen.</p>
            <p><lb n="pse_365.032"/>
Die geschichtliche Gebundenheit dichterischer Arten zeigt <lb n="pse_365.033"/>
sich auch noch in einem anderen. In gewissen Epochen bilden <lb n="pse_365.034"/>
sich ganz besondere Arten aus und erreichen da eine hohe <lb n="pse_365.035"/>
Vollkommenheit. So die Legendendichtung im Mittelalter, <lb n="pse_365.036"/>
das Sonett in der italienischen Frührenaissance und dann in <lb n="pse_365.037"/>
der Barockdichtung, eine bestimmte Dramenform im Zeitalter <lb n="pse_365.038"/>
Elisabeths mit ihrem Höhepunkt Shakespeare; weiter der
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[365/0381] pse_365.001 sie zerbrechen ganz öffentlich als Revolutionäre alle Regeln. pse_365.002 Das tut die gesamteuropäische Romantik weitgehend mit den pse_365.003 strengen Gattungsgesetzen. So erscheinen die Theorien als pse_365.004 geschichtliche Kräfte, die binden, anregen, hindern und abstoßen. pse_365.005 Aber es bleibt zu fragen: wie kommt es z. B. zu einer pse_365.006 Theorie der Novelle oder der Tragödie? Liegen da nur geschichtliche pse_365.007 Ursachen vor? Oder spiegelt sich in den Theorien pse_365.008 und ihren Ausdifferenzierungen nicht irgendwie das dunkle pse_365.009 Wissen, das Ahnen von bestimmten, im schöpferischen Menschen pse_365.010 und seiner Auseinandersetzung mit der Welt begründeten pse_365.011 Urformen dichterischen Schaffens? Man müßte den pse_365.012 Ursprüngen und Anfängen der Regeln und Theorien genau pse_365.013 nachgehen, um darüber Aufschlüsse zu erhalten. 2. Der früher pse_365.014 angeführte Satz, daß La Fontaines »Contes et Nouvelles« pse_365.015 zwar den Formen der Novelle nicht entsprechen, aber trotzdem pse_365.016 zu den schönsten Erzeugnissen der Novellistik gehören, pse_365.017 heißt genau besehen folgendes: Diese Dichtungen entsprechen pse_365.018 nicht den historisch in ganz konkreten Zusammenhängen pse_365.019 ausgebauten Regeln für theoretisch formierte Gattungen, pse_365.020 aber in ihnen wirken sich Urangelegenheiten dichterischen pse_365.021 Schaffens aus, Grundformen einer bestimmten Art pse_365.022 des Erzählens. Denn man kann nicht annehmen, daß der Forscher, pse_365.023 der diesen Ausdruck Novellistik verwendet, ihn bloß pse_365.024 als Sammelnamen für kurze Erzählungen nimmt; dann hätte pse_365.025 er doch ebensogut sagen können: sie gehören zu den schönsten pse_365.026 Erzählungen der Weltliteratur. Aber das meint er nicht. pse_365.027 An diesem Punkt spüren wir die theoretisch nie völlig auflösbare pse_365.028 Verstricktheit geschichtlich bedingter und geregelter pse_365.029 Formen und dichterischer Schöpfungsarten, die aus — wagen pse_365.030 wir den Ausdruck — ewigen Grundrichtungen sprachkünstlerischen pse_365.031 Antwortens auf die Welt hervorgehen. pse_365.032 Die geschichtliche Gebundenheit dichterischer Arten zeigt pse_365.033 sich auch noch in einem anderen. In gewissen Epochen bilden pse_365.034 sich ganz besondere Arten aus und erreichen da eine hohe pse_365.035 Vollkommenheit. So die Legendendichtung im Mittelalter, pse_365.036 das Sonett in der italienischen Frührenaissance und dann in pse_365.037 der Barockdichtung, eine bestimmte Dramenform im Zeitalter pse_365.038 Elisabeths mit ihrem Höhepunkt Shakespeare; weiter der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/381
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/381>, abgerufen am 21.11.2024.