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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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oft wertvolle Spruchdichtung geschaffen. Goethe hat pse_672.002
die schönen Verse über die "Iphigenie": "Alle menschlichen pse_672.003
Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit" bei solcher Gelegenheit pse_672.004
ins Stammbuch eines Schauspielers geschrieben. Auch pse_672.005
die Tendenzdichtung hängt damit zusammen: bestimmte pse_672.006
Lagen, Anschauungen, Parteigruppen regen dazu an, zwingen pse_672.007
wohl auch dazu, ihre Lehren und Meinungen dichterisch pse_672.008
wirkungsvoll an den Mann gebracht zu sehen. Von öder pse_672.009
parteipolitischer Reimerei geht da ein Weg bis zu echter pse_672.010
Dichtung, zu Kleists "Hermannsschlacht".

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Damit sind wir bei der Propaganda, die sich der "Dichtung" pse_672.012
bemächtigt. Sie kann anregen, daß Dichterlinge eigene Fabrikate pse_672.013
herstellen, Dichter sich unter gewissen Umständen bereit pse_672.014
erklären, ihre Muse dafür anzuschirren. Man kann aber auch pse_672.015
echte hohe Dichtung propagandistisch gebrauchen und mißbrauchen. pse_672.016
Wir sahen im deutschen Sprachraum zwischen pse_672.017
1930 und 1950 bei jedem politischen Umschwung den "Tell" pse_672.018
als Festspiel aufgeführt. Grotesk wurde es nur, wenn etwa pse_672.019
die gleiche Gruppe, die bei der Machtergreifung den "Tell" pse_672.020
einspannte, einige Zeit darauf, bei tieferer Einsicht in seinen pse_672.021
Gehalt, ihn, vor allem in den Schulen, verbot. Als dann der pse_672.022
Nationalsozialismus hinweggefegt war, wurde derselbe pse_672.023
"Tell", den er verboten hatte, nun auch von der nächstfolgenden pse_672.024
Machtgruppe -- den Besatzungsmächten -- verboten. pse_672.025
Damit sind wir bei den Verboten von Dichtungen. Angefangen pse_672.026
von Kellers "Grünem Heinrich", der auf dem päpstlichen pse_672.027
Index prohibitorum librorum steht, bis zum politischen pse_672.028
Wirbeltanz der Verbote und Verbrennungen, der zuerst pse_672.029
einmal Thomas Mann, Franz Werfel, Broch, Hesse usw. pse_672.030
mitriß, dann später unter geänderten Vorzeichen W. pse_672.031
Schäfer, R. A. Schröder, Gertrud Le Fort und E. Jünger, pse_672.032
wenigstens in gewissen deutschen Sprachgebieten. Das alles pse_672.033
hängt einerseits mit dem Gefühl zusammen, welche tiefe pse_672.034
menschliche Macht Dichtung ist, andererseits eben mit der pse_672.035
Tatsache, daß auch Dichter selbst in gewisse Wirbel hineingezogen pse_672.036
werden.

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Die Dichtung spielt auch im Gesellschaftsleben eine Rolle. pse_672.038
Der Sänger, der Fahrende, der Hofdichter gehörten zum

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oft wertvolle Spruchdichtung geschaffen. Goethe hat pse_672.002
die schönen Verse über die »Iphigenie«: »Alle menschlichen pse_672.003
Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit« bei solcher Gelegenheit pse_672.004
ins Stammbuch eines Schauspielers geschrieben. Auch pse_672.005
die Tendenzdichtung hängt damit zusammen: bestimmte pse_672.006
Lagen, Anschauungen, Parteigruppen regen dazu an, zwingen pse_672.007
wohl auch dazu, ihre Lehren und Meinungen dichterisch pse_672.008
wirkungsvoll an den Mann gebracht zu sehen. Von öder pse_672.009
parteipolitischer Reimerei geht da ein Weg bis zu echter pse_672.010
Dichtung, zu Kleists »Hermannsschlacht«.

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Damit sind wir bei der Propaganda, die sich der »Dichtung« pse_672.012
bemächtigt. Sie kann anregen, daß Dichterlinge eigene Fabrikate pse_672.013
herstellen, Dichter sich unter gewissen Umständen bereit pse_672.014
erklären, ihre Muse dafür anzuschirren. Man kann aber auch pse_672.015
echte hohe Dichtung propagandistisch gebrauchen und mißbrauchen. pse_672.016
Wir sahen im deutschen Sprachraum zwischen pse_672.017
1930 und 1950 bei jedem politischen Umschwung den »Tell« pse_672.018
als Festspiel aufgeführt. Grotesk wurde es nur, wenn etwa pse_672.019
die gleiche Gruppe, die bei der Machtergreifung den »Tell« pse_672.020
einspannte, einige Zeit darauf, bei tieferer Einsicht in seinen pse_672.021
Gehalt, ihn, vor allem in den Schulen, verbot. Als dann der pse_672.022
Nationalsozialismus hinweggefegt war, wurde derselbe pse_672.023
»Tell«, den er verboten hatte, nun auch von der nächstfolgenden pse_672.024
Machtgruppe — den Besatzungsmächten — verboten. pse_672.025
Damit sind wir bei den Verboten von Dichtungen. Angefangen pse_672.026
von Kellers »Grünem Heinrich«, der auf dem päpstlichen pse_672.027
Index prohibitorum librorum steht, bis zum politischen pse_672.028
Wirbeltanz der Verbote und Verbrennungen, der zuerst pse_672.029
einmal Thomas Mann, Franz Werfel, Broch, Hesse usw. pse_672.030
mitriß, dann später unter geänderten Vorzeichen W. pse_672.031
Schäfer, R. A. Schröder, Gertrud Le Fort und E. Jünger, pse_672.032
wenigstens in gewissen deutschen Sprachgebieten. Das alles pse_672.033
hängt einerseits mit dem Gefühl zusammen, welche tiefe pse_672.034
menschliche Macht Dichtung ist, andererseits eben mit der pse_672.035
Tatsache, daß auch Dichter selbst in gewisse Wirbel hineingezogen pse_672.036
werden.

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Die Dichtung spielt auch im Gesellschaftsleben eine Rolle. pse_672.038
Der Sänger, der Fahrende, der Hofdichter gehörten zum

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/688>, abgerufen am 24.11.2024.