der Zahl der Erkrankungen erklären liesse, wenn den Chlor- waschungen wirklich ein so grosser Einfluss zukäme, und die Häufigkeit der Erkrankungen nur durch die bei der Unter- suchung stattfindende Leicheninfection bedingt wäre, vermö- gen wir, jedes Anhaltspunktes entbehrend, nicht anzugeben."
Obwohl wir unsere Bewunderung dem durchdringenden Scharfsinne Scanzoni's, welcher ihm wegen des Experimentes die Chlorwaschungen aussetzen liess, nicht versagen können, denn ein alltagsgesunder Menschenverstand hätte sich mit der Zeit vom Tage des Eröffnens des Prager Gebärhauses bis zum Tage der Einführung der Chlorwaschungen daselbst begnügt, als derjenigen Zeit, in welcher im Prager Gebärhause Expe- rimente ohne Chlorwaschungen gemacht wurden, in welcher Hinsicht wir Scanzoni in Bezug auf das Wiener Gebärhaus das fleissige Studium unserer 24. auf Seite 142 abgedruckten Tabelle empfehlen. So können wir uns doch nicht verhehlen, dass seine Gewissenhaftigkeit durch dieses Experiment in einem weniger günstigen Licht erscheint; denn Scanzoni war ja damals, als er dies scharfsinnige Experiment machte, noch nicht vollkommen überzeugt, dass die Chlorwaschungen nicht geeignet seien, das Kindbettfieber zu verhüten, diese Ueber- zeugung befestigte sich bei ihm ja erst dadurch, dass trotz des Aussetzens der Chlorwaschungen die Sterblichkeit sich min- derte, und dass trotz den neuerdings vorgenommenen Chlor- waschungen sich die Sterblichkeit wieder steigerte.
Wie aber, wenn sich möglicherweise meine Ansicht doch bestätiget hätte, und wenn in Folge der Aussetzung der Chlor- waschungen eine grössere Sterblichkeit eingetreten wäre? Ist es gewissenhaft, solche Experimente zu machen?
Der Leser erinnert sich, dass wir im April 1847 57, im Mai 36 Todte an der I. Gebärklinik zu Wien hatten.
Mitte Mai beiläufig führten wir die Chlorwaschungen ein, und darauf verminderte sich die Sterblichkeit auf 6 Todte im Juni, auf 3 im Juli, auf 5 im August, aber im September stei- gerte sich die Sterblichkeit wieder auf 12, im October auf 11,
der Zahl der Erkrankungen erklären liesse, wenn den Chlor- waschungen wirklich ein so grosser Einfluss zukäme, und die Häufigkeit der Erkrankungen nur durch die bei der Unter- suchung stattfindende Leicheninfection bedingt wäre, vermö- gen wir, jedes Anhaltspunktes entbehrend, nicht anzugeben.«
Obwohl wir unsere Bewunderung dem durchdringenden Scharfsinne Scanzoni’s, welcher ihm wegen des Experimentes die Chlorwaschungen aussetzen liess, nicht versagen können, denn ein alltagsgesunder Menschenverstand hätte sich mit der Zeit vom Tage des Eröffnens des Prager Gebärhauses bis zum Tage der Einführung der Chlorwaschungen daselbst begnügt, als derjenigen Zeit, in welcher im Prager Gebärhause Expe- rimente ohne Chlorwaschungen gemacht wurden, in welcher Hinsicht wir Scanzoni in Bezug auf das Wiener Gebärhaus das fleissige Studium unserer 24. auf Seite 142 abgedruckten Tabelle empfehlen. So können wir uns doch nicht verhehlen, dass seine Gewissenhaftigkeit durch dieses Experiment in einem weniger günstigen Licht erscheint; denn Scanzoni war ja damals, als er dies scharfsinnige Experiment machte, noch nicht vollkommen überzeugt, dass die Chlorwaschungen nicht geeignet seien, das Kindbettfieber zu verhüten, diese Ueber- zeugung befestigte sich bei ihm ja erst dadurch, dass trotz des Aussetzens der Chlorwaschungen die Sterblichkeit sich min- derte, und dass trotz den neuerdings vorgenommenen Chlor- waschungen sich die Sterblichkeit wieder steigerte.
Wie aber, wenn sich möglicherweise meine Ansicht doch bestätiget hätte, und wenn in Folge der Aussetzung der Chlor- waschungen eine grössere Sterblichkeit eingetreten wäre? Ist es gewissenhaft, solche Experimente zu machen?
Der Leser erinnert sich, dass wir im April 1847 57, im Mai 36 Todte an der I. Gebärklinik zu Wien hatten.
Mitte Mai beiläufig führten wir die Chlorwaschungen ein, und darauf verminderte sich die Sterblichkeit auf 6 Todte im Juni, auf 3 im Juli, auf 5 im August, aber im September stei- gerte sich die Sterblichkeit wieder auf 12, im October auf 11,
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der Zahl der Erkrankungen erklären liesse, wenn den Chlor-
waschungen wirklich ein so grosser Einfluss zukäme, und die
Häufigkeit der Erkrankungen nur durch die bei der Unter-
suchung stattfindende Leicheninfection bedingt wäre, vermö-
gen wir, jedes Anhaltspunktes entbehrend, nicht anzugeben.«
Obwohl wir unsere Bewunderung dem durchdringenden
Scharfsinne Scanzoni’s, welcher ihm wegen des Experimentes
die Chlorwaschungen aussetzen liess, nicht versagen können,
denn ein alltagsgesunder Menschenverstand hätte sich mit der
Zeit vom Tage des Eröffnens des Prager Gebärhauses bis zum
Tage der Einführung der Chlorwaschungen daselbst begnügt,
als derjenigen Zeit, in welcher im Prager Gebärhause Expe-
rimente ohne Chlorwaschungen gemacht wurden, in welcher
Hinsicht wir Scanzoni in Bezug auf das Wiener Gebärhaus
das fleissige Studium unserer 24. auf Seite 142 abgedruckten
Tabelle empfehlen. So können wir uns doch nicht verhehlen,
dass seine Gewissenhaftigkeit durch dieses Experiment in
einem weniger günstigen Licht erscheint; denn Scanzoni war
ja damals, als er dies scharfsinnige Experiment machte, noch
nicht vollkommen überzeugt, dass die Chlorwaschungen nicht
geeignet seien, das Kindbettfieber zu verhüten, diese Ueber-
zeugung befestigte sich bei ihm ja erst dadurch, dass trotz des
Aussetzens der Chlorwaschungen die Sterblichkeit sich min-
derte, und dass trotz den neuerdings vorgenommenen Chlor-
waschungen sich die Sterblichkeit wieder steigerte.
Wie aber, wenn sich möglicherweise meine Ansicht doch
bestätiget hätte, und wenn in Folge der Aussetzung der Chlor-
waschungen eine grössere Sterblichkeit eingetreten wäre? Ist
es gewissenhaft, solche Experimente zu machen?
Der Leser erinnert sich, dass wir im April 1847 57, im
Mai 36 Todte an der I. Gebärklinik zu Wien hatten.
Mitte Mai beiläufig führten wir die Chlorwaschungen ein,
und darauf verminderte sich die Sterblichkeit auf 6 Todte im
Juni, auf 3 im Juli, auf 5 im August, aber im September stei-
gerte sich die Sterblichkeit wieder auf 12, im October auf 11,
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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/341>, abgerufen am 22.11.2024.
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