Ich sehe mich aus mehrern Gründen genöthigt, die Lehre vom Contrapunkte und der Fuge, zu welcher auch der Canon zu rechnen ist, wenn auch nicht ganz zu tren- nen, doch wenigstens bei Erklärung des Begriffs welchen man sich von beiden zu ma- chen hat, den Contrapunkt zuerst vorzunehmen.
Der Hauptgrund dieses Verfahrens ist aus der Bemerkung hervorgegangen, daß beide in der Regel mit einander verwechselt werden, daß selten ein Anfänger der Musik zu finden ist, der einen ganz richtigen Begriff dieser zwei uns stets als Muster vorge- stellt werdenden Gegenstände hat, und der nicht vor dem Umfange der Abhandlungen und der Anzahl der Regeln derselben erschrecken sollte, endlich daß man gewiß nicht eher eine Fuge wird machen können als bis man den doppelten Contrapunkt kennt.
Dieser für uns fast unübersteigliche Berg der Regeln des Contrapunkts und der Fuge hat sich nach und nach während der Kultur der Musik so gigantisch aufgehäuft und ist eins von jenen Wundern geworden, welche uns das 17te und 18te Jahrhundert foliantenreichen Andenkens hinterlassen hat.
Die Wichtigkeit beider Gegenstände ist außer allen Zweifel, nur die Art und Weise sich eine genaue Kenntniß und einen richtigen Begriff zu verschaffen, der alles in sich enthält, und in wiefern sie zur Vollendung der Musik und ihrer Schönheit beitragen ja fast die einzigen Ursachen der schönen Wirkungen derselben sind, ist bisher immer noch zu ausgedehnt gewesen, als daß von Hundert Menschen es einer wagt, sich durch das Heer von Regeln durchzuarbeiten, die wahren von den falschen, und die zweckmäßigen von den zwecklosen zu sondern. Um Schönheit der Musik scheint es der Kunst damali- ger Zeit überhaupt weniger zu thun gewesen zu sein, als um den Ruf unbegränzter Ge- lehrsamkeit, was die Musik Stücke jener Jahrhunderte; wenige ausgenommen, auch be- urkunden, wenn wir nur sonst aufrichtig genug sein und unser Gefühl nicht verläug- nen wollen.
Fuͤnfte Abtheilung.
Erſtes Kapitel. Vom Contrapunkte und der Fuge.
Ich ſehe mich aus mehrern Gruͤnden genoͤthigt, die Lehre vom Contrapunkte und der Fuge, zu welcher auch der Canon zu rechnen iſt, wenn auch nicht ganz zu tren- nen, doch wenigſtens bei Erklaͤrung des Begriffs welchen man ſich von beiden zu ma- chen hat, den Contrapunkt zuerſt vorzunehmen.
Der Hauptgrund dieſes Verfahrens iſt aus der Bemerkung hervorgegangen, daß beide in der Regel mit einander verwechſelt werden, daß ſelten ein Anfaͤnger der Muſik zu finden iſt, der einen ganz richtigen Begriff dieſer zwei uns ſtets als Muſter vorge- ſtellt werdenden Gegenſtaͤnde hat, und der nicht vor dem Umfange der Abhandlungen und der Anzahl der Regeln derſelben erſchrecken ſollte, endlich daß man gewiß nicht eher eine Fuge wird machen koͤnnen als bis man den doppelten Contrapunkt kennt.
Dieſer fuͤr uns faſt unuͤberſteigliche Berg der Regeln des Contrapunkts und der Fuge hat ſich nach und nach waͤhrend der Kultur der Muſik ſo gigantiſch aufgehaͤuft und iſt eins von jenen Wundern geworden, welche uns das 17te und 18te Jahrhundert foliantenreichen Andenkens hinterlaſſen hat.
Die Wichtigkeit beider Gegenſtaͤnde iſt außer allen Zweifel, nur die Art und Weiſe ſich eine genaue Kenntniß und einen richtigen Begriff zu verſchaffen, der alles in ſich enthaͤlt, und in wiefern ſie zur Vollendung der Muſik und ihrer Schoͤnheit beitragen ja faſt die einzigen Urſachen der ſchoͤnen Wirkungen derſelben ſind, iſt bisher immer noch zu ausgedehnt geweſen, als daß von Hundert Menſchen es einer wagt, ſich durch das Heer von Regeln durchzuarbeiten, die wahren von den falſchen, und die zweckmaͤßigen von den zweckloſen zu ſondern. Um Schoͤnheit der Muſik ſcheint es der Kunſt damali- ger Zeit uͤberhaupt weniger zu thun geweſen zu ſein, als um den Ruf unbegraͤnzter Ge- lehrſamkeit, was die Muſik Stuͤcke jener Jahrhunderte; wenige ausgenommen, auch be- urkunden, wenn wir nur ſonſt aufrichtig genug ſein und unſer Gefuͤhl nicht verlaͤug- nen wollen.
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[[162]/0180]
Fuͤnfte Abtheilung.
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Ich ſehe mich aus mehrern Gruͤnden genoͤthigt, die Lehre vom Contrapunkte und
der Fuge, zu welcher auch der Canon zu rechnen iſt, wenn auch nicht ganz zu tren-
nen, doch wenigſtens bei Erklaͤrung des Begriffs welchen man ſich von beiden zu ma-
chen hat, den Contrapunkt zuerſt vorzunehmen.
Der Hauptgrund dieſes Verfahrens iſt aus der Bemerkung hervorgegangen, daß
beide in der Regel mit einander verwechſelt werden, daß ſelten ein Anfaͤnger der Muſik
zu finden iſt, der einen ganz richtigen Begriff dieſer zwei uns ſtets als Muſter vorge-
ſtellt werdenden Gegenſtaͤnde hat, und der nicht vor dem Umfange der Abhandlungen
und der Anzahl der Regeln derſelben erſchrecken ſollte, endlich daß man gewiß nicht eher
eine Fuge wird machen koͤnnen als bis man den doppelten Contrapunkt kennt.
Dieſer fuͤr uns faſt unuͤberſteigliche Berg der Regeln des Contrapunkts und der
Fuge hat ſich nach und nach waͤhrend der Kultur der Muſik ſo gigantiſch aufgehaͤuft
und iſt eins von jenen Wundern geworden, welche uns das 17te und 18te Jahrhundert
foliantenreichen Andenkens hinterlaſſen hat.
Die Wichtigkeit beider Gegenſtaͤnde iſt außer allen Zweifel, nur die Art und Weiſe
ſich eine genaue Kenntniß und einen richtigen Begriff zu verſchaffen, der alles in ſich
enthaͤlt, und in wiefern ſie zur Vollendung der Muſik und ihrer Schoͤnheit beitragen
ja faſt die einzigen Urſachen der ſchoͤnen Wirkungen derſelben ſind, iſt bisher immer noch
zu ausgedehnt geweſen, als daß von Hundert Menſchen es einer wagt, ſich durch das
Heer von Regeln durchzuarbeiten, die wahren von den falſchen, und die zweckmaͤßigen
von den zweckloſen zu ſondern. Um Schoͤnheit der Muſik ſcheint es der Kunſt damali-
ger Zeit uͤberhaupt weniger zu thun geweſen zu ſein, als um den Ruf unbegraͤnzter Ge-
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urkunden, wenn wir nur ſonſt aufrichtig genug ſein und unſer Gefuͤhl nicht verlaͤug-
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Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822, S. [162]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siegmeyer_tonsetzkunst_1822/180>, abgerufen am 16.07.2024.
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