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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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überzeugt sein, dass das selbstlose Handeln unvergleichlich
höheren Wert hat als das egoistische, -- und handeln doch
egoistisch; wir sind davon durchdrungen, dass die geistigen
Freuden viel dauerndere, reuelosere, tiefere sind als die sinn-
lichen, -- und jagen doch wie blind und toll hinter diesen her;
wir sagen uns tausendmal vor, dass der Beifall der Menge
weitaus durch den von ein paar Einsichtigen aufgewogen wird,
-- und wieviele, die dies nicht nur sagen, sondern aufrichtig
glauben, lassen nicht hundertmal diesen im Stich um jenes
willen! Das kann wohl nur daher stammen, dass solche
höheren und vornehmeren Erkenntnisse uns erst kommen, wenn
unser sittliches Wesen schon fertig ist und in der Zeit, wo es
sich bildet, nur die allgemeineren, d. h. niedrigeren theoreti-
schen Auffassungen uns umgeben.

Wenn nun aber auch jeder Einzelne aus der Masse
höhere und feinere Eigenschaften besitzt, so sind diese doch
individuellere, d. h. er unterscheidet sich in der Art und Rich-
tung derselben von jedem andern, der qualitativ ebenso hoch-
stehende Eigenschaften aufweist. Die gemeinsame Grundlage,
von der sie sich abzweigen müssen, um höher zu kommen,
wird von den niedrigeren Qualitäten gebildet, deren Ver-
erbung allein eine unbedingte ist. Von hier aus wird uns
das Schillersche Epigramm verständlich: "Jeder, sieht man
ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in cor-
pore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus." Und ebenso
der Heinesche Vers: "Selten habt ihr mich verstanden, Selten
auch verstand ich euch, Nur wenn wir im Kot uns fanden,
Dann verstanden wir uns gleich." Von hier aus die That-
sache, dass Essen und Trinken, also die ältesten Funktionen,
das gesellige Vereinigungsmittel oft sogar sehr heterogener
Personen und Kreise bilden, von hier aus auch die eigen-
artige Tendenz selbst gebildeter Herrengesellschaften, sich in
der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; je niedriger ein Ge-
biet ist, desto sicherer kann man darauf rechnen, von allen
verstanden zu werden; das wird um so zweifelhafter, je höher
man kommt, weil es in demselben Verhältnis differenzierter,
individueller wird. Die Handlungen von Massen werden hier-
durch in entsprechender Weise charakterisiert. Der Kardinal
Retz bemerkt in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des
Pariser Parlaments zur Zeit der Fronde beschreibt, dass zahl-
reiche Körperschaften, wenn sie auch noch so viel hoch-
stehende und gebildete Personen einschliessen, doch bei ge-
meinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel
handeln, d. h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften
wie das gemeine Volk regiert werden, -- nur diese sind eben
allen gemeinsam, während die höheren differenziert, also bei
den Verschiedenen verschieden sind. Wenn eine Masse ein-
heitlich handelt, so geschieht es immer auf Grund möglichst

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überzeugt sein, daſs das selbstlose Handeln unvergleichlich
höheren Wert hat als das egoistische, — und handeln doch
egoistisch; wir sind davon durchdrungen, daſs die geistigen
Freuden viel dauerndere, reuelosere, tiefere sind als die sinn-
lichen, — und jagen doch wie blind und toll hinter diesen her;
wir sagen uns tausendmal vor, daſs der Beifall der Menge
weitaus durch den von ein paar Einsichtigen aufgewogen wird,
— und wieviele, die dies nicht nur sagen, sondern aufrichtig
glauben, lassen nicht hundertmal diesen im Stich um jenes
willen! Das kann wohl nur daher stammen, daſs solche
höheren und vornehmeren Erkenntnisse uns erst kommen, wenn
unser sittliches Wesen schon fertig ist und in der Zeit, wo es
sich bildet, nur die allgemeineren, d. h. niedrigeren theoreti-
schen Auffassungen uns umgeben.

Wenn nun aber auch jeder Einzelne aus der Masse
höhere und feinere Eigenschaften besitzt, so sind diese doch
individuellere, d. h. er unterscheidet sich in der Art und Rich-
tung derselben von jedem andern, der qualitativ ebenso hoch-
stehende Eigenschaften aufweist. Die gemeinsame Grundlage,
von der sie sich abzweigen müssen, um höher zu kommen,
wird von den niedrigeren Qualitäten gebildet, deren Ver-
erbung allein eine unbedingte ist. Von hier aus wird uns
das Schillersche Epigramm verständlich: „Jeder, sieht man
ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in cor-
pore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.“ Und ebenso
der Heinesche Vers: „Selten habt ihr mich verstanden, Selten
auch verstand ich euch, Nur wenn wir im Kot uns fanden,
Dann verstanden wir uns gleich.“ Von hier aus die That-
sache, daſs Essen und Trinken, also die ältesten Funktionen,
das gesellige Vereinigungsmittel oft sogar sehr heterogener
Personen und Kreise bilden, von hier aus auch die eigen-
artige Tendenz selbst gebildeter Herrengesellschaften, sich in
der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; je niedriger ein Ge-
biet ist, desto sicherer kann man darauf rechnen, von allen
verstanden zu werden; das wird um so zweifelhafter, je höher
man kommt, weil es in demselben Verhältnis differenzierter,
individueller wird. Die Handlungen von Massen werden hier-
durch in entsprechender Weise charakterisiert. Der Kardinal
Retz bemerkt in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des
Pariser Parlaments zur Zeit der Fronde beschreibt, daſs zahl-
reiche Körperschaften, wenn sie auch noch so viel hoch-
stehende und gebildete Personen einschlieſsen, doch bei ge-
meinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel
handeln, d. h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften
wie das gemeine Volk regiert werden, — nur diese sind eben
allen gemeinsam, während die höheren differenziert, also bei
den Verschiedenen verschieden sind. Wenn eine Masse ein-
heitlich handelt, so geschieht es immer auf Grund möglichst

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[75/0089] X 1. überzeugt sein, daſs das selbstlose Handeln unvergleichlich höheren Wert hat als das egoistische, — und handeln doch egoistisch; wir sind davon durchdrungen, daſs die geistigen Freuden viel dauerndere, reuelosere, tiefere sind als die sinn- lichen, — und jagen doch wie blind und toll hinter diesen her; wir sagen uns tausendmal vor, daſs der Beifall der Menge weitaus durch den von ein paar Einsichtigen aufgewogen wird, — und wieviele, die dies nicht nur sagen, sondern aufrichtig glauben, lassen nicht hundertmal diesen im Stich um jenes willen! Das kann wohl nur daher stammen, daſs solche höheren und vornehmeren Erkenntnisse uns erst kommen, wenn unser sittliches Wesen schon fertig ist und in der Zeit, wo es sich bildet, nur die allgemeineren, d. h. niedrigeren theoreti- schen Auffassungen uns umgeben. Wenn nun aber auch jeder Einzelne aus der Masse höhere und feinere Eigenschaften besitzt, so sind diese doch individuellere, d. h. er unterscheidet sich in der Art und Rich- tung derselben von jedem andern, der qualitativ ebenso hoch- stehende Eigenschaften aufweist. Die gemeinsame Grundlage, von der sie sich abzweigen müssen, um höher zu kommen, wird von den niedrigeren Qualitäten gebildet, deren Ver- erbung allein eine unbedingte ist. Von hier aus wird uns das Schillersche Epigramm verständlich: „Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in cor- pore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.“ Und ebenso der Heinesche Vers: „Selten habt ihr mich verstanden, Selten auch verstand ich euch, Nur wenn wir im Kot uns fanden, Dann verstanden wir uns gleich.“ Von hier aus die That- sache, daſs Essen und Trinken, also die ältesten Funktionen, das gesellige Vereinigungsmittel oft sogar sehr heterogener Personen und Kreise bilden, von hier aus auch die eigen- artige Tendenz selbst gebildeter Herrengesellschaften, sich in der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; je niedriger ein Ge- biet ist, desto sicherer kann man darauf rechnen, von allen verstanden zu werden; das wird um so zweifelhafter, je höher man kommt, weil es in demselben Verhältnis differenzierter, individueller wird. Die Handlungen von Massen werden hier- durch in entsprechender Weise charakterisiert. Der Kardinal Retz bemerkt in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des Pariser Parlaments zur Zeit der Fronde beschreibt, daſs zahl- reiche Körperschaften, wenn sie auch noch so viel hoch- stehende und gebildete Personen einschlieſsen, doch bei ge- meinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel handeln, d. h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften wie das gemeine Volk regiert werden, — nur diese sind eben allen gemeinsam, während die höheren differenziert, also bei den Verschiedenen verschieden sind. Wenn eine Masse ein- heitlich handelt, so geschieht es immer auf Grund möglichst

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/89>, abgerufen am 24.11.2024.