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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Individualismus und die Fülle seiner Erzeugnisse geschaffen. Ersicht-
lich leistet die Persönlichkeit, mit dem so gestalteten, oder eigentlich
nicht gestalteten Stoffe neue Lebenseinheiten schaffend, eben dasselbe
mit grösserer Selbständigkeit und Variabilität, was sie in dem früheren
Falle in enger Solidarität mit stofflichen Einheiten geleistet hatte.

Durch sein so charakterisiertes Wesen wird das Geld innerhalb
der historisch-psychologischen Gebiete der vollendetste Repräsentant
einer Erkenntnistendenz der modernen Wissenschaft überhaupt: der
Reduktion qualitativer Bestimmungen auf quantitative. Hier denkt man
zunächst an die Schwebungen indifferenter Medien, die wir als die
objektive Veranlassung unserer Farben- und Tonempfindungen kennen.
Rein quantitative Unterschiede der Oszillationen entscheiden darüber, ob
wir so qualitativ Unterschiedenes wie grün oder violett sehen, oder wie
das Contra-A oder das fünfgestrichene C hören. Innerhalb der objektiven
Wirklichkeit, von der nur Fragmente, zufällig und zusammenhangslos, in
unser Bewusstsein hineinwirken, ist alles nach Mass und Zahl geordnet,
und den qualitativen Verschiedenheiten unserer subjektiven Reaktionen
entsprechen quantitative ihrer sachlichen Gegenbilder. Vielleicht sind
all die unendlichen Verschiedenheiten der Körper, die in ihren chemi-
schen Beziehungen hervortreten, nur verschiedene Schwingungen eines
und desselben Grundstoffes. So weit die mathematische Naturwissenschaft
dringt, hat sie das Bestreben, unter Voraussetzung gewisser gegebener
Stoffe, Konstellationen, Bewegungsursachen die Strukturen und Ent-
wicklungen durch blosse Massformeln auszudrücken. In anderer Form
und Anwendung ist dieselbe Grundtendenz in all den Fällen wirksam,
wo man frühere Annahmen eigenartiger Kräfte und Bildungen auf die
Massenwirkung auch sonst bekannter, unspezifischer Elemente zurück-
geführt hat: so in Bezug auf die Bildung der Erdoberfläche, deren
Gestalt man statt aus plötzlichen und unvergleichbaren Katastrophen
jetzt vielmehr aus den langsam summierten, unmerklich kleinen, aber
in unermesslicher Vielheit sich äussernden Wirkungen herleitet, die die
fortwährend beobachtbaren Kräfte des Wassers, der Luft, der Pflanzen-
decke, der Wärme und Kälte ausüben. Innerhalb der historischen
Wissenschaften ist dieselbe Gesinnung bemerkbar: Sprache, Künste,
Institutionen, Kulturgüter jeder Art erscheinen als das Resultat un-
zähliger minimaler Beiträge, das Wunder ihres Entstehens wird nicht
durch die Qualität heroischer Einzelpersönlichkeiten, sondern durch
die Quantität der zusammengeströmten und verdichteten Aktivitäten
der ganzen historischen Gruppe erklärt; als die Objekte der Ge-
schichtsforschung erscheinen mehr die kleinen, alltäglichen Vorgänge
des geistigen, kulturellen, politischen Lebens, die durch ihre Summierung

Simmel, Philosophie des Geldes. 18

Individualismus und die Fülle seiner Erzeugnisse geschaffen. Ersicht-
lich leistet die Persönlichkeit, mit dem so gestalteten, oder eigentlich
nicht gestalteten Stoffe neue Lebenseinheiten schaffend, eben dasselbe
mit gröſserer Selbständigkeit und Variabilität, was sie in dem früheren
Falle in enger Solidarität mit stofflichen Einheiten geleistet hatte.

Durch sein so charakterisiertes Wesen wird das Geld innerhalb
der historisch-psychologischen Gebiete der vollendetste Repräsentant
einer Erkenntnistendenz der modernen Wissenschaft überhaupt: der
Reduktion qualitativer Bestimmungen auf quantitative. Hier denkt man
zunächst an die Schwebungen indifferenter Medien, die wir als die
objektive Veranlassung unserer Farben- und Tonempfindungen kennen.
Rein quantitative Unterschiede der Oszillationen entscheiden darüber, ob
wir so qualitativ Unterschiedenes wie grün oder violett sehen, oder wie
das Contra-A oder das fünfgestrichene C hören. Innerhalb der objektiven
Wirklichkeit, von der nur Fragmente, zufällig und zusammenhangslos, in
unser Bewuſstsein hineinwirken, ist alles nach Maſs und Zahl geordnet,
und den qualitativen Verschiedenheiten unserer subjektiven Reaktionen
entsprechen quantitative ihrer sachlichen Gegenbilder. Vielleicht sind
all die unendlichen Verschiedenheiten der Körper, die in ihren chemi-
schen Beziehungen hervortreten, nur verschiedene Schwingungen eines
und desselben Grundstoffes. So weit die mathematische Naturwissenschaft
dringt, hat sie das Bestreben, unter Voraussetzung gewisser gegebener
Stoffe, Konstellationen, Bewegungsursachen die Strukturen und Ent-
wicklungen durch bloſse Maſsformeln auszudrücken. In anderer Form
und Anwendung ist dieselbe Grundtendenz in all den Fällen wirksam,
wo man frühere Annahmen eigenartiger Kräfte und Bildungen auf die
Massenwirkung auch sonst bekannter, unspezifischer Elemente zurück-
geführt hat: so in Bezug auf die Bildung der Erdoberfläche, deren
Gestalt man statt aus plötzlichen und unvergleichbaren Katastrophen
jetzt vielmehr aus den langsam summierten, unmerklich kleinen, aber
in unermeſslicher Vielheit sich äuſsernden Wirkungen herleitet, die die
fortwährend beobachtbaren Kräfte des Wassers, der Luft, der Pflanzen-
decke, der Wärme und Kälte ausüben. Innerhalb der historischen
Wissenschaften ist dieselbe Gesinnung bemerkbar: Sprache, Künste,
Institutionen, Kulturgüter jeder Art erscheinen als das Resultat un-
zähliger minimaler Beiträge, das Wunder ihres Entstehens wird nicht
durch die Qualität heroischer Einzelpersönlichkeiten, sondern durch
die Quantität der zusammengeströmten und verdichteten Aktivitäten
der ganzen historischen Gruppe erklärt; als die Objekte der Ge-
schichtsforschung erscheinen mehr die kleinen, alltäglichen Vorgänge
des geistigen, kulturellen, politischen Lebens, die durch ihre Summierung

Simmel, Philosophie des Geldes. 18
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[273/0297] Individualismus und die Fülle seiner Erzeugnisse geschaffen. Ersicht- lich leistet die Persönlichkeit, mit dem so gestalteten, oder eigentlich nicht gestalteten Stoffe neue Lebenseinheiten schaffend, eben dasselbe mit gröſserer Selbständigkeit und Variabilität, was sie in dem früheren Falle in enger Solidarität mit stofflichen Einheiten geleistet hatte. Durch sein so charakterisiertes Wesen wird das Geld innerhalb der historisch-psychologischen Gebiete der vollendetste Repräsentant einer Erkenntnistendenz der modernen Wissenschaft überhaupt: der Reduktion qualitativer Bestimmungen auf quantitative. Hier denkt man zunächst an die Schwebungen indifferenter Medien, die wir als die objektive Veranlassung unserer Farben- und Tonempfindungen kennen. Rein quantitative Unterschiede der Oszillationen entscheiden darüber, ob wir so qualitativ Unterschiedenes wie grün oder violett sehen, oder wie das Contra-A oder das fünfgestrichene C hören. Innerhalb der objektiven Wirklichkeit, von der nur Fragmente, zufällig und zusammenhangslos, in unser Bewuſstsein hineinwirken, ist alles nach Maſs und Zahl geordnet, und den qualitativen Verschiedenheiten unserer subjektiven Reaktionen entsprechen quantitative ihrer sachlichen Gegenbilder. Vielleicht sind all die unendlichen Verschiedenheiten der Körper, die in ihren chemi- schen Beziehungen hervortreten, nur verschiedene Schwingungen eines und desselben Grundstoffes. So weit die mathematische Naturwissenschaft dringt, hat sie das Bestreben, unter Voraussetzung gewisser gegebener Stoffe, Konstellationen, Bewegungsursachen die Strukturen und Ent- wicklungen durch bloſse Maſsformeln auszudrücken. In anderer Form und Anwendung ist dieselbe Grundtendenz in all den Fällen wirksam, wo man frühere Annahmen eigenartiger Kräfte und Bildungen auf die Massenwirkung auch sonst bekannter, unspezifischer Elemente zurück- geführt hat: so in Bezug auf die Bildung der Erdoberfläche, deren Gestalt man statt aus plötzlichen und unvergleichbaren Katastrophen jetzt vielmehr aus den langsam summierten, unmerklich kleinen, aber in unermeſslicher Vielheit sich äuſsernden Wirkungen herleitet, die die fortwährend beobachtbaren Kräfte des Wassers, der Luft, der Pflanzen- decke, der Wärme und Kälte ausüben. Innerhalb der historischen Wissenschaften ist dieselbe Gesinnung bemerkbar: Sprache, Künste, Institutionen, Kulturgüter jeder Art erscheinen als das Resultat un- zähliger minimaler Beiträge, das Wunder ihres Entstehens wird nicht durch die Qualität heroischer Einzelpersönlichkeiten, sondern durch die Quantität der zusammengeströmten und verdichteten Aktivitäten der ganzen historischen Gruppe erklärt; als die Objekte der Ge- schichtsforschung erscheinen mehr die kleinen, alltäglichen Vorgänge des geistigen, kulturellen, politischen Lebens, die durch ihre Summierung Simmel, Philosophie des Geldes. 18

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/297>, abgerufen am 23.11.2024.