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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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Das erste Capitel.
nöthig achte/ daß der redliche haß/ welchen sie gegen die sünden in ihrer seele
fühlen/ ihnen der wahren reue gnugsames zeugnüß seye/ sonderlich da er so
bald in den redlichen vorsatz und absagung der sünden ausbricht/ und sie auff
solchem wege nachmals in demuth und sorgfalt einhergehen. Was aber die
art betrifft/ wodurch sothane reue am kräfftigsten befördert werde/ erkenne
zwahr/ daß freylich das gesetz/ aus dem erkäntnüß der sünden kommet/ sein
werck dabey habe/ und dahero auch die gewissen mit GOttes zorn und dem
schaden/ welchen sie aus der sünde an statt des verhofften nutzens zu erwarten
haben/ zu schrecken seyen/ aber die vornehmste krafft setze ich darein/ daß die
seelen durch das Evangelium der unaussprechlichen liebe und gnade GOt-
tes überzeuget werden/ auff daß alsdenn die reue nicht mehr bloß eine gesetzli-
che und erzwungene/ folglich gewiß unfruchtbare reue bleibe/ sondern daß sie
aus dem Evangelio mit glauben vermischet werde/ und wir die sünde lernen
hassen/ nicht um des schadens willen/ welchen wir davon haben/ sondern daß
sie dem um uns so hochverdienten heiligen Vater zu wider seyen/ und wir dem-
selben darinnen undanckbar werden/ da wir ihn doch zu lieben und mit hertz/
mund und leben zu dancken verlangen und verlangen sollen. Der mißbrauch
der absolution ist auch wol bemercket/ und ist eine von meinen angelegenlich-
sten klagen/ die ich jemals führe/ und nicht offt gnug wiederhohlen kan: wol-
te GOtt/ es stünde damit zu ändern/ so leicht/ als wir den fehler vor augen
sehen und bejammern. Es ist eine an sich nicht böse und hertzlich gemeinte
anstalt der kirchen gewesen/ da die absonderliche beicht und absolution (so
vorhin nicht anders als in den fällen sonderbar schwehrer begangener sünden
in übung/ und also keine ordentliche bereitung zu dem heil. Abendmahl ge-
wesen) eingeführet worden ist/ wie sie auch ihren nutzen und frucht gehabt
haben mag. So haben unsre vorfahren bey der Reformation auch ihre ur-
sachen gehabt/ daß sie dieselbige an vielen orten behalten: ich leugne auch
nicht/ wann damit wol und gottselig umgegangen wird/ daß sie bey manchen
etwa ein mittel einer erbauung seyn möchte. Wie aber insgemein damit
verfahren wird/ leugne ich nicht/ daß wir mehr den mißbrauch der sache in
stärckung der sichern/ als den rechten gebrauch in würdiger vorbereitung/ an-
treffen werden/ und sehr im zweiffel stehet/ ob der daher kommende nutzen dem
schaden gleich wiege; Ob wol hinwieder ursachen sind/ warum/ wenns auch
in meiner hand stünde/ die gantze sache abzustellen/ und es wieder in die ord-
nung der ersten kirchen zu bringen/ ich tausend bedencken dabey haben würde.
Jn gegenwärtigem zustand aber weiß ich noch keinen bessern rath noch zu-
träglichers mittel/ daher ich mich auch desselben fleißig gebrauche/ als folgen-
des: nemlich/ daß wir zum öfften in den predigten gelegenheit nehmen/ den
leuten ihren falschen wahn von der absolution und dem opere operato in der-

sel-

Das erſte Capitel.
noͤthig achte/ daß der redliche haß/ welchen ſie gegen die ſuͤnden in ihrer ſeele
fuͤhlen/ ihnen der wahren reue gnugſames zeugnuͤß ſeye/ ſonderlich da er ſo
bald in den redlichen vorſatz und abſagung der ſuͤnden ausbricht/ und ſie auff
ſolchem wege nachmals in demuth und ſorgfalt einhergehen. Was aber die
art betrifft/ wodurch ſothane reue am kraͤfftigſten befoͤrdert werde/ erkenne
zwahr/ daß freylich das geſetz/ aus dem erkaͤntnuͤß der ſuͤnden kommet/ ſein
werck dabey habe/ und dahero auch die gewiſſen mit GOttes zorn und dem
ſchaden/ welchen ſie aus der ſuͤnde an ſtatt des verhofften nutzens zu erwarten
haben/ zu ſchrecken ſeyen/ aber die vornehmſte krafft ſetze ich darein/ daß die
ſeelen durch das Evangelium der unausſprechlichen liebe und gnade GOt-
tes uͤberzeuget werden/ auff daß alsdenn die reue nicht mehr bloß eine geſetzli-
che und erzwungene/ folglich gewiß unfruchtbare reue bleibe/ ſondern daß ſie
aus dem Evangelio mit glauben vermiſchet werde/ und wir die ſuͤnde lernen
haſſen/ nicht um des ſchadens willen/ welchen wir davon haben/ ſondern daß
ſie dem um uns ſo hochverdienten heiligen Vater zu wider ſeyen/ und wiꝛ dem-
ſelben darinnen undanckbar werden/ da wir ihn doch zu lieben und mit hertz/
mund und leben zu dancken verlangen und verlangen ſollen. Der mißbrauch
der abſolution iſt auch wol bemercket/ und iſt eine von meinen angelegenlich-
ſten klagen/ die ich jemals fuͤhre/ und nicht offt gnug wiederhohlen kan: wol-
te GOtt/ es ſtuͤnde damit zu aͤndern/ ſo leicht/ als wir den fehler vor augen
ſehen und bejammern. Es iſt eine an ſich nicht boͤſe und hertzlich gemeinte
anſtalt der kirchen geweſen/ da die abſonderliche beicht und abſolution (ſo
vorhin nicht anders als in den faͤllen ſonderbar ſchwehrer begangener ſuͤnden
in uͤbung/ und alſo keine ordentliche bereitung zu dem heil. Abendmahl ge-
weſen) eingefuͤhret worden iſt/ wie ſie auch ihren nutzen und frucht gehabt
haben mag. So haben unſre vorfahren bey der Reformation auch ihre ur-
ſachen gehabt/ daß ſie dieſelbige an vielen orten behalten: ich leugne auch
nicht/ wann damit wol und gottſelig umgegangen wird/ daß ſie bey manchen
etwa ein mittel einer erbauung ſeyn moͤchte. Wie aber insgemein damit
verfahren wird/ leugne ich nicht/ daß wir mehr den mißbrauch der ſache in
ſtaͤrckung der ſichern/ als den rechten gebrauch in wuͤrdiger vorbereitung/ an-
treffen werden/ und ſehr im zweiffel ſtehet/ ob der daher kommende nutzen dem
ſchaden gleich wiege; Ob wol hinwieder urſachen ſind/ warum/ wenns auch
in meiner hand ſtuͤnde/ die gantze ſache abzuſtellen/ und es wieder in die ord-
nung der erſten kirchen zu bringen/ ich tauſend bedencken dabey haben wuͤrde.
Jn gegenwaͤrtigem zuſtand aber weiß ich noch keinen beſſern rath noch zu-
traͤglichers mittel/ daher ich mich auch deſſelben fleißig gebrauche/ als folgen-
des: nemlich/ daß wir zum oͤfften in den predigten gelegenheit nehmen/ den
leuten ihren falſchen wahn von der abſolution und dem opere operato in der-

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[196/0212] Das erſte Capitel. noͤthig achte/ daß der redliche haß/ welchen ſie gegen die ſuͤnden in ihrer ſeele fuͤhlen/ ihnen der wahren reue gnugſames zeugnuͤß ſeye/ ſonderlich da er ſo bald in den redlichen vorſatz und abſagung der ſuͤnden ausbricht/ und ſie auff ſolchem wege nachmals in demuth und ſorgfalt einhergehen. Was aber die art betrifft/ wodurch ſothane reue am kraͤfftigſten befoͤrdert werde/ erkenne zwahr/ daß freylich das geſetz/ aus dem erkaͤntnuͤß der ſuͤnden kommet/ ſein werck dabey habe/ und dahero auch die gewiſſen mit GOttes zorn und dem ſchaden/ welchen ſie aus der ſuͤnde an ſtatt des verhofften nutzens zu erwarten haben/ zu ſchrecken ſeyen/ aber die vornehmſte krafft ſetze ich darein/ daß die ſeelen durch das Evangelium der unausſprechlichen liebe und gnade GOt- tes uͤberzeuget werden/ auff daß alsdenn die reue nicht mehr bloß eine geſetzli- che und erzwungene/ folglich gewiß unfruchtbare reue bleibe/ ſondern daß ſie aus dem Evangelio mit glauben vermiſchet werde/ und wir die ſuͤnde lernen haſſen/ nicht um des ſchadens willen/ welchen wir davon haben/ ſondern daß ſie dem um uns ſo hochverdienten heiligen Vater zu wider ſeyen/ und wiꝛ dem- ſelben darinnen undanckbar werden/ da wir ihn doch zu lieben und mit hertz/ mund und leben zu dancken verlangen und verlangen ſollen. Der mißbrauch der abſolution iſt auch wol bemercket/ und iſt eine von meinen angelegenlich- ſten klagen/ die ich jemals fuͤhre/ und nicht offt gnug wiederhohlen kan: wol- te GOtt/ es ſtuͤnde damit zu aͤndern/ ſo leicht/ als wir den fehler vor augen ſehen und bejammern. Es iſt eine an ſich nicht boͤſe und hertzlich gemeinte anſtalt der kirchen geweſen/ da die abſonderliche beicht und abſolution (ſo vorhin nicht anders als in den faͤllen ſonderbar ſchwehrer begangener ſuͤnden in uͤbung/ und alſo keine ordentliche bereitung zu dem heil. Abendmahl ge- weſen) eingefuͤhret worden iſt/ wie ſie auch ihren nutzen und frucht gehabt haben mag. So haben unſre vorfahren bey der Reformation auch ihre ur- ſachen gehabt/ daß ſie dieſelbige an vielen orten behalten: ich leugne auch nicht/ wann damit wol und gottſelig umgegangen wird/ daß ſie bey manchen etwa ein mittel einer erbauung ſeyn moͤchte. Wie aber insgemein damit verfahren wird/ leugne ich nicht/ daß wir mehr den mißbrauch der ſache in ſtaͤrckung der ſichern/ als den rechten gebrauch in wuͤrdiger vorbereitung/ an- treffen werden/ und ſehr im zweiffel ſtehet/ ob der daher kommende nutzen dem ſchaden gleich wiege; Ob wol hinwieder urſachen ſind/ warum/ wenns auch in meiner hand ſtuͤnde/ die gantze ſache abzuſtellen/ und es wieder in die ord- nung der erſten kirchen zu bringen/ ich tauſend bedencken dabey haben wuͤrde. Jn gegenwaͤrtigem zuſtand aber weiß ich noch keinen beſſern rath noch zu- traͤglichers mittel/ daher ich mich auch deſſelben fleißig gebrauche/ als folgen- des: nemlich/ daß wir zum oͤfften in den predigten gelegenheit nehmen/ den leuten ihren falſchen wahn von der abſolution und dem opere operato in der- ſel-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/212>, abgerufen am 23.11.2024.