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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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Das erste Capitel.
wird angetroffen haben. Was aber vor dieser materie hergehet und drauff
folgen solle/ auszuführen/ sind solche leute rechte meister. Also geben sie die
stattlichste gelegenheit zu erkäntnüß unserer verderbnüß (in welchem stück ich
nicht weiß/ ob einer den Dyke übertreffe/ welcher in seinem selbs-betrug die
betrüglichkeit unsers hertzens uns zu einer nützlichen überzeugung mit leben-
digen farben vorgestellet) ferner zu vorstellung der nothwendigkeit und wich-
tigkeit der buß/ hingegen wegräumung derselben hindernüssen/ und was ei-
gentlich zu der wahren bekehrung und dero vorbereitung erfordert wird.
Nechst deme geben sie auch erwünschte nachricht/ wie es sich mit der erneue-
rung und heiligung verhalte/ in dero wir dem HErren nach unserer wiederge-
buhrt dienen sollen und müssen. Von der materie aber der wiedergebuhrt
und darinnen geschehenden unserer rechtfertigung/ fürchte ich sehr/ daß sie
nicht nach gnüge in solchen büchern zu finden seye/ vielmehr daß wiederge-
buhrt und erneuerung offt mächtig in einander geworffen und vermischet
werden. Hingegen halte ich mich versichert/ womit unsere kirchen-lehr über-
ein stimmet/ daß aller derjenige mensch wahrhafftig wiedergebohren seye/ in-
dem/ nachdem sein hertz in der buß zur erkäntnüß und haß der sünden gebracht/
1. der funcke des glaubens/ und also solches himmlische liecht/ von dem H.
Geist entzündet ist: da solcher glaube so bald Christum ergreifft/ seine gerech-
tigkeit geschencket bekommen hat/ und alsobald darinnen zu einem kind Got-
tes angenommen wird: Und also 3. eine neue natur in neuem liecht in dem
verstand/ krafft in dem willen/ und zuneigung des guten in allen kräfften in
ihm gewircket ist. Wo/ sage ich/ sich dieses findet/ ob wol solcher neue mensch
als ein noch sehr zartes und unformliches kind GOttes/ so ist er doch eine
himmelische gebuhrt/ ohneracht in allen kräfften des menschen auch noch die
alte art/ finsternüß/ widerstrebung gegen das gute/ trägheit/ zuneigung zu
dem bösen sich findet/ und jene neue art so verduncklet als auch hindert/ aber
deswegen nicht auff hebet/ als lang man noch trachtet in jenem neuen wesen
zuzunehmen/ und zwahr solches von hertzens-grund; dann wie ich die voll-
kommenheit zu der wiedergebuhrt nicht erfordere/ noch davor halte/ daß die
wiedergebuhrt alsdann erst geschehe/ wo mans nun mit der erneuerung hoch
gebracht/ und das meiste der alten gebuhrt gleichsam ausgerottet hat/ so er-
fordere ich gleichwol mit allem recht die redlichkeit und unverfälschten ernst/
die der heucheley entgegen stehet. Also wo Baxters meinung in dem ange-
führten werck nicht anders ist/ als daß GOtt müsse den höchsten sitz in un-
serer seele haben/ und wir ihn am meisten lieben/ auch unsere hoffnung auff
das ewige/ mit verschmähung des irrdischen/ gerichtet/ so dann Christus
nicht nur in seiner verheissung sondern auch heiligkeit angenehm seyn/ das
ist/ daß unser hertz zu diesen dingen nunmehr müsse eine wahrhafftige neigung

haben/

Das erſte Capitel.
wird angetroffen haben. Was aber vor dieſer materie hergehet und drauff
folgen ſolle/ auszufuͤhren/ ſind ſolche leute rechte meiſter. Alſo geben ſie die
ſtattlichſte gelegenheit zu erkaͤntnuͤß unſerer verderbnuͤß (in welchem ſtuͤck ich
nicht weiß/ ob einer den Dyke uͤbertreffe/ welcher in ſeinem ſelbs-betrug die
betruͤglichkeit unſers hertzens uns zu einer nuͤtzlichen uͤberzeugung mit leben-
digen farben vorgeſtellet) ferner zu vorſtellung der nothwendigkeit und wich-
tigkeit der buß/ hingegen wegraͤumung derſelben hindernuͤſſen/ und was ei-
gentlich zu der wahren bekehrung und dero vorbereitung erfordert wird.
Nechſt deme geben ſie auch erwuͤnſchte nachricht/ wie es ſich mit der erneue-
rung und heiligung verhalte/ in dero wir dem HErren nach unſerer wiederge-
buhrt dienen ſollen und muͤſſen. Von der materie aber der wiedergebuhrt
und darinnen geſchehenden unſerer rechtfertigung/ fuͤrchte ich ſehr/ daß ſie
nicht nach gnuͤge in ſolchen buͤchern zu finden ſeye/ vielmehr daß wiederge-
buhrt und erneuerung offt maͤchtig in einander geworffen und vermiſchet
werden. Hingegen halte ich mich verſichert/ womit unſere kirchen-lehr uͤber-
ein ſtimmet/ daß aller derjenige menſch wahrhafftig wiedergebohren ſeye/ in-
dem/ nachdem ſein hertz in der buß zur erkaͤntnuͤß uñ haß der ſuͤnden gebracht/
1. der funcke des glaubens/ und alſo ſolches himmliſche liecht/ von dem H.
Geiſt entzuͤndet iſt: da ſolcher glaube ſo bald Chriſtum ergreifft/ ſeine gerech-
tigkeit geſchencket bekommen hat/ und alſobald darinnen zu einem kind Got-
tes angenommen wird: Und alſo 3. eine neue natur in neuem liecht in dem
verſtand/ krafft in dem willen/ und zuneigung des guten in allen kraͤfften in
ihm gewircket iſt. Wo/ ſage ich/ ſich dieſes findet/ ob wol ſolcher neue menſch
als ein noch ſehr zartes und unformliches kind GOttes/ ſo iſt er doch eine
himmeliſche gebuhrt/ ohneracht in allen kraͤfften des menſchen auch noch die
alte art/ finſternuͤß/ widerſtrebung gegen das gute/ traͤgheit/ zuneigung zu
dem boͤſen ſich findet/ und jene neue art ſo verduncklet als auch hindert/ aber
deswegen nicht auff hebet/ als lang man noch trachtet in jenem neuen weſen
zuzunehmen/ und zwahr ſolches von hertzens-grund; dann wie ich die voll-
kommenheit zu der wiedergebuhrt nicht erfordere/ noch davor halte/ daß die
wiedergebuhrt alsdann erſt geſchehe/ wo mans nun mit der erneuerung hoch
gebracht/ und das meiſte der alten gebuhrt gleichſam ausgerottet hat/ ſo er-
fordere ich gleichwol mit allem recht die redlichkeit und unverfaͤlſchten ernſt/
die der heucheley entgegen ſtehet. Alſo wo Baxters meinung in dem ange-
fuͤhrten werck nicht anders iſt/ als daß GOtt muͤſſe den hoͤchſten ſitz in un-
ſerer ſeele haben/ und wir ihn am meiſten lieben/ auch unſere hoffnung auff
das ewige/ mit verſchmaͤhung des irrdiſchen/ gerichtet/ ſo dann Chriſtus
nicht nur in ſeiner verheiſſung ſondern auch heiligkeit angenehm ſeyn/ das
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[336/0352] Das erſte Capitel. wird angetroffen haben. Was aber vor dieſer materie hergehet und drauff folgen ſolle/ auszufuͤhren/ ſind ſolche leute rechte meiſter. Alſo geben ſie die ſtattlichſte gelegenheit zu erkaͤntnuͤß unſerer verderbnuͤß (in welchem ſtuͤck ich nicht weiß/ ob einer den Dyke uͤbertreffe/ welcher in ſeinem ſelbs-betrug die betruͤglichkeit unſers hertzens uns zu einer nuͤtzlichen uͤberzeugung mit leben- digen farben vorgeſtellet) ferner zu vorſtellung der nothwendigkeit und wich- tigkeit der buß/ hingegen wegraͤumung derſelben hindernuͤſſen/ und was ei- gentlich zu der wahren bekehrung und dero vorbereitung erfordert wird. Nechſt deme geben ſie auch erwuͤnſchte nachricht/ wie es ſich mit der erneue- rung und heiligung verhalte/ in dero wir dem HErren nach unſerer wiederge- buhrt dienen ſollen und muͤſſen. Von der materie aber der wiedergebuhrt und darinnen geſchehenden unſerer rechtfertigung/ fuͤrchte ich ſehr/ daß ſie nicht nach gnuͤge in ſolchen buͤchern zu finden ſeye/ vielmehr daß wiederge- buhrt und erneuerung offt maͤchtig in einander geworffen und vermiſchet werden. Hingegen halte ich mich verſichert/ womit unſere kirchen-lehr uͤber- ein ſtimmet/ daß aller derjenige menſch wahrhafftig wiedergebohren ſeye/ in- dem/ nachdem ſein hertz in der buß zur erkaͤntnuͤß uñ haß der ſuͤnden gebracht/ 1. der funcke des glaubens/ und alſo ſolches himmliſche liecht/ von dem H. Geiſt entzuͤndet iſt: da ſolcher glaube ſo bald Chriſtum ergreifft/ ſeine gerech- tigkeit geſchencket bekommen hat/ und alſobald darinnen zu einem kind Got- tes angenommen wird: Und alſo 3. eine neue natur in neuem liecht in dem verſtand/ krafft in dem willen/ und zuneigung des guten in allen kraͤfften in ihm gewircket iſt. Wo/ ſage ich/ ſich dieſes findet/ ob wol ſolcher neue menſch als ein noch ſehr zartes und unformliches kind GOttes/ ſo iſt er doch eine himmeliſche gebuhrt/ ohneracht in allen kraͤfften des menſchen auch noch die alte art/ finſternuͤß/ widerſtrebung gegen das gute/ traͤgheit/ zuneigung zu dem boͤſen ſich findet/ und jene neue art ſo verduncklet als auch hindert/ aber deswegen nicht auff hebet/ als lang man noch trachtet in jenem neuen weſen zuzunehmen/ und zwahr ſolches von hertzens-grund; dann wie ich die voll- kommenheit zu der wiedergebuhrt nicht erfordere/ noch davor halte/ daß die wiedergebuhrt alsdann erſt geſchehe/ wo mans nun mit der erneuerung hoch gebracht/ und das meiſte der alten gebuhrt gleichſam ausgerottet hat/ ſo er- fordere ich gleichwol mit allem recht die redlichkeit und unverfaͤlſchten ernſt/ die der heucheley entgegen ſtehet. Alſo wo Baxters meinung in dem ange- fuͤhrten werck nicht anders iſt/ als daß GOtt muͤſſe den hoͤchſten ſitz in un- ſerer ſeele haben/ und wir ihn am meiſten lieben/ auch unſere hoffnung auff das ewige/ mit verſchmaͤhung des irrdiſchen/ gerichtet/ ſo dann Chriſtus nicht nur in ſeiner verheiſſung ſondern auch heiligkeit angenehm ſeyn/ das iſt/ daß unſer hertz zu dieſen dingen nunmehr muͤſſe eine wahrhafftige neigung haben/

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/352>, abgerufen am 22.11.2024.