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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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ARTIC. V. SECT. I.
steln sonderlich anserwehlten rüstzeug zugekommen/ erreichet habe. Wiewol ich
den spruch/ 2. Tim. 4/ 7. nicht dahin zuziehen getraute/ als der nichts anders sagt/
als nur/ er habe den lauff vollendet/ welches aus Apost. Gesch. 20/ 24. am bequem-
sten verstanden werden kan von der zeit seines lebens und seines amts nach der gleich-
nüs 1. Cor. 9/ 24. 25. die er nun wuste zu ende zu gehen. Daher obs wol freylich
wahr ist/ daß der liebe Apostel jetzt zugegebener massen eine vollkommenheit erreichet/
folgte solches doch aus diesen worten nicht: sondern es könten solche worte damal
auch brauchen/ die noch in dem ersten anfang ihres christenthums stehende. (Da
ihnen nicht so viel zeit gelassen worden/ aus dem kinder- und jünglings zustand zum
alter der väter 1. Joh. 2/ 13. 14. und also der vollkommenheit zuwachsen) wo sie auch
zur marter geführet worden/ oder sonsten selig abscheiden sollen/ indem von ihnen
auch wahr war/ daß sie gleichwol ihren lauff vollendet und glauben gehalten hätten.

8. Was aber die meinung betrifft/ daß die vollkommenheit der heiligung
auch dem leib die unsterblichkeit in diesem leben zuwege bringe/ wundre mich/
woraus dieselbe geschöpffet worden/ und wuste ich nicht/ ob in der ersten kirchen
(da doch deren/ welchen das lob der vollkommenheit mit wahrheit zugeleget wer-
den können/ vielmehrere gewesen/ und sie davon mehrere erfahrung gehabt) solche
gedancken jemal jemand eingekommen wären. Wolte man sich auff den spruch
Joh. 11/ 26. beruffen/ wo es heisset: wer da lebet/ und glaubet an mich/ der
wird nimmermehr sterben/
so suchet man in den worten des Heylandes einen
verstand/ der nicht darinne steckt. 1. Redet der HErr nicht von einigen wenigen
seiner jünger/ die eine höhere vollkommenheit erreichet/ sondern allen an ihn wahr-
hafftig gläubigen/ die man aber stets in ziemlicher zahl durch den zeitlichen todt in
die selige ewigkeit über zugehen erfähret. Daher 2. heisset/ nimmermehr sterben/
nicht die trennung des leibes und der seelen nicht ausstehen dörffen/ sondern nicht
sterben in ewigkeit/
wie es im griechischen eigentlich lautet/ das ist/ nicht eigentlich
sterben/ daß man dem tod als einem ewigen gefängnüs überantwortet würde/
sondern zwar zu seiner zeit einschlaffen/ aber wiederum durch die krafft JEsu Chri-
sti zum wahren leben erwecket werden; wie auch die vorige worte zeigen; er wer-
de leben/ ob er gleich stürbe/
daß es also ein leben ist/ darein man auch durch
den todt eingehet. 3. Die durch den fall den menschlichen leibern zugezogene sterb-
lichkeit hat dieselbe also durch drungen/ daß sie in solchem zustand unmüglich in die
selige ewigkeit eingehen können/ sondern es muß/ 2. Cor. 5/ 1. daß irrdische hauß
dieser hütte (wo Paulus kein ausnahm einiger vollkommenen machet) zerbrochen
werden/ ehe man in die himmlische wohnung eingehet. Daher ich auch die ver-
wandlung derer/ die der jüngste tag lebend auff erden antreffen wird/ nicht anders
verstehen kan/ als daß bey den leibern solcher leut eine solche plötzliche änderung
vorgehen wird/ die an statt eines augenblicklichen todes und aufferstehung seyn wer-
de/ daß in einem augenblick das verweßliche verschlungen/ und die natürliche art

in
s 3

ARTIC. V. SECT. I.
ſteln ſonderlich anserwehlten ruͤſtzeug zugekommen/ erreichet habe. Wiewol ich
den ſpruch/ 2. Tim. 4/ 7. nicht dahin zuziehen getraute/ als der nichts anders ſagt/
als nur/ er habe den lauff vollendet/ welches aus Apoſt. Geſch. 20/ 24. am bequem-
ſten verſtanden werden kan von der zeit ſeines lebens und ſeines amts nach der gleich-
nuͤs 1. Cor. 9/ 24. 25. die er nun wuſte zu ende zu gehen. Daher obs wol freylich
wahr iſt/ daß der liebe Apoſtel jetzt zugegebener maſſen eine vollkom̃enheit erreichet/
folgte ſolches doch aus dieſen worten nicht: ſondern es koͤnten ſolche worte damal
auch brauchen/ die noch in dem erſten anfang ihres chriſtenthums ſtehende. (Da
ihnen nicht ſo viel zeit gelaſſen worden/ aus dem kinder- und juͤnglings zuſtand zum
alter der vaͤter 1. Joh. 2/ 13. 14. und alſo der vollkommenheit zuwachſen) wo ſie auch
zur marter gefuͤhret worden/ oder ſonſten ſelig abſcheiden ſollen/ indem von ihnen
auch wahr war/ daß ſie gleichwol ihren lauff vollendet und glauben gehalten haͤtten.

8. Was aber die meinung betrifft/ daß die vollkommenheit der heiligung
auch dem leib die unſterblichkeit in dieſem leben zuwege bringe/ wundre mich/
woraus dieſelbe geſchoͤpffet worden/ und wuſte ich nicht/ ob in der erſten kirchen
(da doch deren/ welchen das lob der vollkommenheit mit wahrheit zugeleget wer-
den koͤnnen/ vielmehrere geweſen/ und ſie davon mehrere erfahrung gehabt) ſolche
gedancken jemal jemand eingekommen waͤren. Wolte man ſich auff den ſpruch
Joh. 11/ 26. beruffen/ wo es heiſſet: wer da lebet/ und glaubet an mich/ der
wird nimmermehr ſterben/
ſo ſuchet man in den worten des Heylandes einen
verſtand/ der nicht darinne ſteckt. 1. Redet der HErr nicht von einigen wenigen
ſeiner juͤnger/ die eine hoͤhere vollkommenheit erreichet/ ſondern allen an ihn wahr-
hafftig glaͤubigen/ die man aber ſtets in ziemlicher zahl durch den zeitlichen todt in
die ſelige ewigkeit uͤber zugehen erfaͤhret. Daher 2. heiſſet/ nimmermehr ſterben/
nicht die trennung des leibes und der ſeelen nicht ausſtehen doͤrffen/ ſondern nicht
ſterben in ewigkeit/
wie es im griechiſchen eigentlich lautet/ das iſt/ nicht eigentlich
ſterben/ daß man dem tod als einem ewigen gefaͤngnuͤs uͤberantwortet wuͤrde/
ſondern zwar zu ſeiner zeit einſchlaffen/ aber wiederum durch die krafft JEſu Chri-
ſti zum wahren leben erwecket werden; wie auch die vorige worte zeigen; er wer-
de leben/ ob er gleich ſtuͤrbe/
daß es alſo ein leben iſt/ darein man auch durch
den todt eingehet. 3. Die durch den fall den menſchlichen leibern zugezogene ſterb-
lichkeit hat dieſelbe alſo durch drungen/ daß ſie in ſolchem zuſtand unmuͤglich in die
ſelige ewigkeit eingehen koͤnnen/ ſondern es muß/ 2. Cor. 5/ 1. daß irrdiſche hauß
dieſer huͤtte (wo Paulus kein ausnahm einiger vollkommenen machet) zerbrochen
werden/ ehe man in die himmliſche wohnung eingehet. Daher ich auch die ver-
wandlung derer/ die der juͤngſte tag lebend auff erden antreffen wird/ nicht anders
verſtehen kan/ als daß bey den leibern ſolcher leut eine ſolche ploͤtzliche aͤnderung
vorgehen wird/ die an ſtatt eines augenblicklichen todes und aufferſtehung ſeyn wer-
de/ daß in einem augenblick das verweßliche verſchlungen/ und die natuͤrliche art

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[141/0941] ARTIC. V. SECT. I. ſteln ſonderlich anserwehlten ruͤſtzeug zugekommen/ erreichet habe. Wiewol ich den ſpruch/ 2. Tim. 4/ 7. nicht dahin zuziehen getraute/ als der nichts anders ſagt/ als nur/ er habe den lauff vollendet/ welches aus Apoſt. Geſch. 20/ 24. am bequem- ſten verſtanden werden kan von der zeit ſeines lebens und ſeines amts nach der gleich- nuͤs 1. Cor. 9/ 24. 25. die er nun wuſte zu ende zu gehen. Daher obs wol freylich wahr iſt/ daß der liebe Apoſtel jetzt zugegebener maſſen eine vollkom̃enheit erreichet/ folgte ſolches doch aus dieſen worten nicht: ſondern es koͤnten ſolche worte damal auch brauchen/ die noch in dem erſten anfang ihres chriſtenthums ſtehende. (Da ihnen nicht ſo viel zeit gelaſſen worden/ aus dem kinder- und juͤnglings zuſtand zum alter der vaͤter 1. Joh. 2/ 13. 14. und alſo der vollkommenheit zuwachſen) wo ſie auch zur marter gefuͤhret worden/ oder ſonſten ſelig abſcheiden ſollen/ indem von ihnen auch wahr war/ daß ſie gleichwol ihren lauff vollendet und glauben gehalten haͤtten. 8. Was aber die meinung betrifft/ daß die vollkommenheit der heiligung auch dem leib die unſterblichkeit in dieſem leben zuwege bringe/ wundre mich/ woraus dieſelbe geſchoͤpffet worden/ und wuſte ich nicht/ ob in der erſten kirchen (da doch deren/ welchen das lob der vollkommenheit mit wahrheit zugeleget wer- den koͤnnen/ vielmehrere geweſen/ und ſie davon mehrere erfahrung gehabt) ſolche gedancken jemal jemand eingekommen waͤren. Wolte man ſich auff den ſpruch Joh. 11/ 26. beruffen/ wo es heiſſet: wer da lebet/ und glaubet an mich/ der wird nimmermehr ſterben/ ſo ſuchet man in den worten des Heylandes einen verſtand/ der nicht darinne ſteckt. 1. Redet der HErr nicht von einigen wenigen ſeiner juͤnger/ die eine hoͤhere vollkommenheit erreichet/ ſondern allen an ihn wahr- hafftig glaͤubigen/ die man aber ſtets in ziemlicher zahl durch den zeitlichen todt in die ſelige ewigkeit uͤber zugehen erfaͤhret. Daher 2. heiſſet/ nimmermehr ſterben/ nicht die trennung des leibes und der ſeelen nicht ausſtehen doͤrffen/ ſondern nicht ſterben in ewigkeit/ wie es im griechiſchen eigentlich lautet/ das iſt/ nicht eigentlich ſterben/ daß man dem tod als einem ewigen gefaͤngnuͤs uͤberantwortet wuͤrde/ ſondern zwar zu ſeiner zeit einſchlaffen/ aber wiederum durch die krafft JEſu Chri- ſti zum wahren leben erwecket werden; wie auch die vorige worte zeigen; er wer- de leben/ ob er gleich ſtuͤrbe/ daß es alſo ein leben iſt/ darein man auch durch den todt eingehet. 3. Die durch den fall den menſchlichen leibern zugezogene ſterb- lichkeit hat dieſelbe alſo durch drungen/ daß ſie in ſolchem zuſtand unmuͤglich in die ſelige ewigkeit eingehen koͤnnen/ ſondern es muß/ 2. Cor. 5/ 1. daß irrdiſche hauß dieſer huͤtte (wo Paulus kein ausnahm einiger vollkommenen machet) zerbrochen werden/ ehe man in die himmliſche wohnung eingehet. Daher ich auch die ver- wandlung derer/ die der juͤngſte tag lebend auff erden antreffen wird/ nicht anders verſtehen kan/ als daß bey den leibern ſolcher leut eine ſolche ploͤtzliche aͤnderung vorgehen wird/ die an ſtatt eines augenblicklichen todes und aufferſtehung ſeyn wer- de/ daß in einem augenblick das verweßliche verſchlungen/ und die natuͤrliche art in s 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/941>, abgerufen am 27.11.2024.