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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

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dem regen Schönheitssinn Melitta's genügt hatte.
Besonders schön war der Kopf der Venus von Milo.
Auf einem der nächsten Blätter war die ganze Gestalt.

Wo haben Sie das gezeichnet?" fragte Oswald;
doch unmöglich nach einer Copie?"

"Nein, nach dem Original selbst. Ich war damals
in Italien eine halbe Katholikin geworden, und als ich
in Paris im Louvre die hohe Gestalt sah, da sagte
ich zu mir: diese oder keine ist deine Heilige. O, Sie
glauben nicht, wie schön sie ist, wie schön und wie gut!
und dieser Ausdruck himmlischer Güte, den die Milo¬
nische Venus nicht nur vor allen andern Venusbildern,
sondern auch vor sämmtlichen antiken Köpfen voraus
hat, rührte mich fast noch mehr wie ihre göttliche
Schönheit. Vor der Milonischen Venus habe ich es
zum ersten Male begriffen, wie es möglich sei, vor
einem Bilde, das Menschenhand geschaffen, zn beten,
aufrichtig, inbrünstig zu beten. Warum stützen Sie
den Kopf so nachdenklich in die Hand? Hier, nehmen
Sie diesen Bleistift und schreiben Sie mir unter das
Bild, was Sie eben gedichtet haben; denn ich habe es
Ihnen angesehen, daß Sie Verse machten."

Oswald nahm den Griffel, den ihm Melitta halb
im Scherz und halb im Ernst bot, und schrieb, wäh¬

dem regen Schönheitsſinn Melitta's genügt hatte.
Beſonders ſchön war der Kopf der Venus von Milo.
Auf einem der nächſten Blätter war die ganze Geſtalt.

Wo haben Sie das gezeichnet?“ fragte Oswald;
doch unmöglich nach einer Copie?“

„Nein, nach dem Original ſelbſt. Ich war damals
in Italien eine halbe Katholikin geworden, und als ich
in Paris im Louvre die hohe Geſtalt ſah, da ſagte
ich zu mir: dieſe oder keine iſt deine Heilige. O, Sie
glauben nicht, wie ſchön ſie iſt, wie ſchön und wie gut!
und dieſer Ausdruck himmliſcher Güte, den die Milo¬
niſche Venus nicht nur vor allen andern Venusbildern,
ſondern auch vor ſämmtlichen antiken Köpfen voraus
hat, rührte mich faſt noch mehr wie ihre göttliche
Schönheit. Vor der Miloniſchen Venus habe ich es
zum erſten Male begriffen, wie es möglich ſei, vor
einem Bilde, das Menſchenhand geſchaffen, zn beten,
aufrichtig, inbrünſtig zu beten. Warum ſtützen Sie
den Kopf ſo nachdenklich in die Hand? Hier, nehmen
Sie dieſen Bleiſtift und ſchreiben Sie mir unter das
Bild, was Sie eben gedichtet haben; denn ich habe es
Ihnen angeſehen, daß Sie Verſe machten.“

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im Scherz und halb im Ernſt bot, und ſchrieb, wäh¬

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[178/0188] dem regen Schönheitsſinn Melitta's genügt hatte. Beſonders ſchön war der Kopf der Venus von Milo. Auf einem der nächſten Blätter war die ganze Geſtalt. Wo haben Sie das gezeichnet?“ fragte Oswald; doch unmöglich nach einer Copie?“ „Nein, nach dem Original ſelbſt. Ich war damals in Italien eine halbe Katholikin geworden, und als ich in Paris im Louvre die hohe Geſtalt ſah, da ſagte ich zu mir: dieſe oder keine iſt deine Heilige. O, Sie glauben nicht, wie ſchön ſie iſt, wie ſchön und wie gut! und dieſer Ausdruck himmliſcher Güte, den die Milo¬ niſche Venus nicht nur vor allen andern Venusbildern, ſondern auch vor ſämmtlichen antiken Köpfen voraus hat, rührte mich faſt noch mehr wie ihre göttliche Schönheit. Vor der Miloniſchen Venus habe ich es zum erſten Male begriffen, wie es möglich ſei, vor einem Bilde, das Menſchenhand geſchaffen, zn beten, aufrichtig, inbrünſtig zu beten. Warum ſtützen Sie den Kopf ſo nachdenklich in die Hand? Hier, nehmen Sie dieſen Bleiſtift und ſchreiben Sie mir unter das Bild, was Sie eben gedichtet haben; denn ich habe es Ihnen angeſehen, daß Sie Verſe machten.“ Oswald nahm den Griffel, den ihm Melitta halb im Scherz und halb im Ernſt bot, und ſchrieb, wäh¬

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/188>, abgerufen am 17.06.2024.