nicht denken. Leben Sie einmal, wie ich, sieben Jahre an ein und demselben Ort, und lassen Sie diesen Ort Berkow sein, und wachsen Sie fest an diesem Orte mit allen Wurzeln ihres Wesens, daß Sie jeden Spatz, der über Ihrem Fenster nistet, persönlich kennen, und mit jedem Pferde in dem Stalle auf Du und Du stehen; und dann versuchen Sie sich loßzureißen -- und Sie werden empfinden, wie weh das thut."
Der gute Mann griff wieder nach seinem Taschen¬ tuch und fuhr sich unter dem Vorwande, den Schweiß von der Stirn abtrocknen zu wollen, ein paar Mal über die nassen Augen.
"Ich begreife das vollkommen," sagte Oswald mit ungeheuchelter Theilnahme.
"Sie können das nicht begreifen, lieber Collega! Sehen Sie, da habe ich im vorigen Frühjahr ange¬ fangen, mir einen Epheu vor meinem Fenster zu ziehen, und mich den ganzen Sommer und Winter darauf ge¬ freut, wie hübsch es in diesem Herbst sich ausnehmen würde, wenn das Fenster von unten bis oben berankt wäre, und wir, das heißt ich, mein Kanarienvogel und mein Laubfrosch, uns hinter den breiten Blättern ver¬ stecken könnten -- denn Sie glauben nicht, wie breite Blätter ich gezogen habe -- so groß, wie Weinblätter -- und in diesem Herbst wird mein Fenster mit grünen
nicht denken. Leben Sie einmal, wie ich, ſieben Jahre an ein und demſelben Ort, und laſſen Sie dieſen Ort Berkow ſein, und wachſen Sie feſt an dieſem Orte mit allen Wurzeln ihres Weſens, daß Sie jeden Spatz, der über Ihrem Fenſter niſtet, perſönlich kennen, und mit jedem Pferde in dem Stalle auf Du und Du ſtehen; und dann verſuchen Sie ſich loßzureißen — und Sie werden empfinden, wie weh das thut.“
Der gute Mann griff wieder nach ſeinem Taſchen¬ tuch und fuhr ſich unter dem Vorwande, den Schweiß von der Stirn abtrocknen zu wollen, ein paar Mal über die naſſen Augen.
„Ich begreife das vollkommen,“ ſagte Oſwald mit ungeheuchelter Theilnahme.
„Sie können das nicht begreifen, lieber Collega! Sehen Sie, da habe ich im vorigen Frühjahr ange¬ fangen, mir einen Epheu vor meinem Fenſter zu ziehen, und mich den ganzen Sommer und Winter darauf ge¬ freut, wie hübſch es in dieſem Herbſt ſich ausnehmen würde, wenn das Fenſter von unten bis oben berankt wäre, und wir, das heißt ich, mein Kanarienvogel und mein Laubfroſch, uns hinter den breiten Blättern ver¬ ſtecken könnten — denn Sie glauben nicht, wie breite Blätter ich gezogen habe — ſo groß, wie Weinblätter — und in dieſem Herbſt wird mein Fenſter mit grünen
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nicht denken. Leben Sie einmal, wie ich, ſieben Jahre
an ein und demſelben Ort, und laſſen Sie dieſen Ort
Berkow ſein, und wachſen Sie feſt an dieſem Orte mit
allen Wurzeln ihres Weſens, daß Sie jeden Spatz,
der über Ihrem Fenſter niſtet, perſönlich kennen, und
mit jedem Pferde in dem Stalle auf Du und Du
ſtehen; und dann verſuchen Sie ſich loßzureißen — und
Sie werden empfinden, wie weh das thut.“
Der gute Mann griff wieder nach ſeinem Taſchen¬
tuch und fuhr ſich unter dem Vorwande, den Schweiß
von der Stirn abtrocknen zu wollen, ein paar Mal
über die naſſen Augen.
„Ich begreife das vollkommen,“ ſagte Oſwald mit
ungeheuchelter Theilnahme.
„Sie können das nicht begreifen, lieber Collega!
Sehen Sie, da habe ich im vorigen Frühjahr ange¬
fangen, mir einen Epheu vor meinem Fenſter zu ziehen,
und mich den ganzen Sommer und Winter darauf ge¬
freut, wie hübſch es in dieſem Herbſt ſich ausnehmen
würde, wenn das Fenſter von unten bis oben berankt
wäre, und wir, das heißt ich, mein Kanarienvogel und
mein Laubfroſch, uns hinter den breiten Blättern ver¬
ſtecken könnten — denn Sie glauben nicht, wie breite
Blätter ich gezogen habe — ſo groß, wie Weinblätter
— und in dieſem Herbſt wird mein Fenſter mit grünen
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/234>, abgerufen am 17.06.2024.
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