stehen scheine -- eine Nachricht, welche die Bewohnerin der Sphären höherer Bildung in ein solches Erstaunen versetzte, daß, als jetzt Oswald kurz vor dem Abend¬ essen erschien, sie seine höfliche Begrüßung nur mit einer sehr förmlichen Verbeugung zu erwiedern ver¬ mochte.
Dies wunderliche Benehmen der vorher für den "Gastfreund" so begeisterten Dichterin würde wahr¬ scheinlich nicht wenig zur Erhöhung von Oswald's guter Laune beigetragen haben, wenn er es überhaupt bemerkt hätte. Leider aber befand er sich heute Abend in einer Stimmung, in welcher man, wie Oldenburg es ausdrückte, Ohren und Augen offen hat und doch weder sieht noch hört. Die Schatten der Ereignisse des letzten Tages und der letzten Nacht lagen noch auf seiner Seele und auf seiner Stirn. Seine ge¬ wöhnliche Lebhaftigkeit war einer melancholischen Ruhe gewichen; er sah bleich und nachdenklich aus, aber so schön und vornehm, daß Primula's zartbesaitete Seele alsbald den Zauber, welchen die Erscheinung des jungen Fremden bei der ersten Begegnung auf sie ausgeübt hatte, wiederum zu fühlen begann, und sie die War¬ nung ihres vorsichtigen Gatten um so lieber vergaß, als sie sah, mit welcher ausgesuchten Höflichkeit und Zuvorkommenheit die Baronin und der Baron denselben
ſtehen ſcheine — eine Nachricht, welche die Bewohnerin der Sphären höherer Bildung in ein ſolches Erſtaunen verſetzte, daß, als jetzt Oswald kurz vor dem Abend¬ eſſen erſchien, ſie ſeine höfliche Begrüßung nur mit einer ſehr förmlichen Verbeugung zu erwiedern ver¬ mochte.
Dies wunderliche Benehmen der vorher für den „Gaſtfreund“ ſo begeiſterten Dichterin würde wahr¬ ſcheinlich nicht wenig zur Erhöhung von Oswald's guter Laune beigetragen haben, wenn er es überhaupt bemerkt hätte. Leider aber befand er ſich heute Abend in einer Stimmung, in welcher man, wie Oldenburg es ausdrückte, Ohren und Augen offen hat und doch weder ſieht noch hört. Die Schatten der Ereigniſſe des letzten Tages und der letzten Nacht lagen noch auf ſeiner Seele und auf ſeiner Stirn. Seine ge¬ wöhnliche Lebhaftigkeit war einer melancholiſchen Ruhe gewichen; er ſah bleich und nachdenklich aus, aber ſo ſchön und vornehm, daß Primula's zartbeſaitete Seele alsbald den Zauber, welchen die Erſcheinung des jungen Fremden bei der erſten Begegnung auf ſie ausgeübt hatte, wiederum zu fühlen begann, und ſie die War¬ nung ihres vorſichtigen Gatten um ſo lieber vergaß, als ſie ſah, mit welcher ausgeſuchten Höflichkeit und Zuvorkommenheit die Baronin und der Baron denſelben
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ſtehen ſcheine — eine Nachricht, welche die Bewohnerin
der Sphären höherer Bildung in ein ſolches Erſtaunen
verſetzte, daß, als jetzt Oswald kurz vor dem Abend¬
eſſen erſchien, ſie ſeine höfliche Begrüßung nur mit
einer ſehr förmlichen Verbeugung zu erwiedern ver¬
mochte.
Dies wunderliche Benehmen der vorher für den
„Gaſtfreund“ ſo begeiſterten Dichterin würde wahr¬
ſcheinlich nicht wenig zur Erhöhung von Oswald's
guter Laune beigetragen haben, wenn er es überhaupt
bemerkt hätte. Leider aber befand er ſich heute Abend
in einer Stimmung, in welcher man, wie Oldenburg
es ausdrückte, Ohren und Augen offen hat und doch
weder ſieht noch hört. Die Schatten der Ereigniſſe
des letzten Tages und der letzten Nacht lagen noch
auf ſeiner Seele und auf ſeiner Stirn. Seine ge¬
wöhnliche Lebhaftigkeit war einer melancholiſchen Ruhe
gewichen; er ſah bleich und nachdenklich aus, aber ſo
ſchön und vornehm, daß Primula's zartbeſaitete Seele
alsbald den Zauber, welchen die Erſcheinung des jungen
Fremden bei der erſten Begegnung auf ſie ausgeübt
hatte, wiederum zu fühlen begann, und ſie die War¬
nung ihres vorſichtigen Gatten um ſo lieber vergaß,
als ſie ſah, mit welcher ausgeſuchten Höflichkeit und
Zuvorkommenheit die Baronin und der Baron denſelben
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/172>, abgerufen am 16.02.2025.
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