funkelnde Stern, der soeben über seinem Horizonte aufgegangen war, hatte ihn nicht so verblendet, daß er das Gestirn, welches nun schon so lange mit nim¬ mer verlöschendem, stets gleichem, treuem, lieblichem Licht auf ihn herabblickte, darüber vergessen hätte. Er hatte schon gestern in Sassitz mit Bestimmtheit auf einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Bau¬ mann noch am Abend, nachdem er mit dem Doctor weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt haben würde. Wohl hatte er Mutter Karsten gesagt, daß er nach Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der alte Baumann einen Brief Melitta's, der so leicht in andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch hatte Oswald eine große Sehnsucht nach dem längst erwarteten Brief!
So stahl er sich denn, gleich nachdem die Gesell¬ schaft den Schloßhof verlassen hatte, durch den Gar¬ ten nach dem großen Thor, aus dem man fast un¬ mittelbar in den Tannenwald zwischen Grenwitz und Berkow gelangte. Es dunkelte schon unter den hohen Bäumen mit den weit überhangenden Aesten. Das von der Hitze des Tages durchwärmte Holz strömte jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem weiten Revier herrschte eine fast unheimliche Stille.
Und jetzt in dieser feierlichen Abendstunde, in die¬
funkelnde Stern, der ſoeben über ſeinem Horizonte aufgegangen war, hatte ihn nicht ſo verblendet, daß er das Geſtirn, welches nun ſchon ſo lange mit nim¬ mer verlöſchendem, ſtets gleichem, treuem, lieblichem Licht auf ihn herabblickte, darüber vergeſſen hätte. Er hatte ſchon geſtern in Saſſitz mit Beſtimmtheit auf einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Bau¬ mann noch am Abend, nachdem er mit dem Doctor weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt haben würde. Wohl hatte er Mutter Karſten geſagt, daß er nach Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der alte Baumann einen Brief Melitta's, der ſo leicht in andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch hatte Oswald eine große Sehnſucht nach dem längſt erwarteten Brief!
So ſtahl er ſich denn, gleich nachdem die Geſell¬ ſchaft den Schloßhof verlaſſen hatte, durch den Gar¬ ten nach dem großen Thor, aus dem man faſt un¬ mittelbar in den Tannenwald zwiſchen Grenwitz und Berkow gelangte. Es dunkelte ſchon unter den hohen Bäumen mit den weit überhangenden Aeſten. Das von der Hitze des Tages durchwärmte Holz ſtrömte jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem weiten Revier herrſchte eine faſt unheimliche Stille.
Und jetzt in dieſer feierlichen Abendſtunde, in die¬
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funkelnde Stern, der ſoeben über ſeinem Horizonte
aufgegangen war, hatte ihn nicht ſo verblendet, daß
er das Geſtirn, welches nun ſchon ſo lange mit nim¬
mer verlöſchendem, ſtets gleichem, treuem, lieblichem
Licht auf ihn herabblickte, darüber vergeſſen hätte. Er
hatte ſchon geſtern in Saſſitz mit Beſtimmtheit auf
einen Brief gehofft; er fürchtete, daß der alte Bau¬
mann noch am Abend, nachdem er mit dem Doctor
weggefahren, vergeblich nach ihm gefragt haben würde.
Wohl hatte er Mutter Karſten geſagt, daß er nach
Grenwitz zurückgehe, aber dorthin konnte natürlich der
alte Baumann einen Brief Melitta's, der ſo leicht in
andere Hände fallen konnte, nicht bringen. Und doch
hatte Oswald eine große Sehnſucht nach dem längſt
erwarteten Brief!
So ſtahl er ſich denn, gleich nachdem die Geſell¬
ſchaft den Schloßhof verlaſſen hatte, durch den Gar¬
ten nach dem großen Thor, aus dem man faſt un¬
mittelbar in den Tannenwald zwiſchen Grenwitz und
Berkow gelangte. Es dunkelte ſchon unter den hohen
Bäumen mit den weit überhangenden Aeſten. Das
von der Hitze des Tages durchwärmte Holz ſtrömte
jetzt am kühleren Abend würzigen Duft aus. In dem
weiten Revier herrſchte eine faſt unheimliche Stille.
Und jetzt in dieſer feierlichen Abendſtunde, in die¬
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/158>, abgerufen am 16.02.2025.
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