"Es ist dies!" sagte Helene. "Ich fand vorgestern Abend in der Nähe der Kapelle einen Brief --"
Die Baronin hob ihr Haupt, und warf Helenen einen Blick zu, in welchem Bestürzung, Zorn, Furcht und Trotz auf eine seltsame Weise gemischt war.
"Einen Brief," fuhr Helene fort, "den ich vor¬ gestern Morgen geschrieben und Luisen zur Besorgung übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich ihn Luisen gab, versiegelt, als ich ihn wiederfand, war er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luise, die mir überdies zugethan scheint, ein solches Interesse an meiner Correspondenz nimmt, um sich auf die Gefahr hin, ihren Dienst zu verlieren, eines solchen Verge¬ hens schuldig zu machen, muß also annehmen, daß irgend Jemand sonst im Schloß es der Mühe werth hält, meinen Geheimnissen nachzuspüren. Nun war es meine Absicht, zu fragen, was Du mir in dieser Sache zu thun räthst."
Die Baronin hatte, während Helene sprach, sehr eifrig genäht. Jetzt blickte sie wieder auf und sagte:
"An wen war der Brief!"
"An Mary Burton."
"Hast Du Dich in dem Briefe frei geäußert?"
"Wie man an eine Freundin eben schreibt."
„Es iſt dies!“ ſagte Helene. „Ich fand vorgeſtern Abend in der Nähe der Kapelle einen Brief —“
Die Baronin hob ihr Haupt, und warf Helenen einen Blick zu, in welchem Beſtürzung, Zorn, Furcht und Trotz auf eine ſeltſame Weiſe gemiſcht war.
„Einen Brief,“ fuhr Helene fort, „den ich vor¬ geſtern Morgen geſchrieben und Luiſen zur Beſorgung übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich ihn Luiſen gab, verſiegelt, als ich ihn wiederfand, war er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luiſe, die mir überdies zugethan ſcheint, ein ſolches Intereſſe an meiner Correſpondenz nimmt, um ſich auf die Gefahr hin, ihren Dienſt zu verlieren, eines ſolchen Verge¬ hens ſchuldig zu machen, muß alſo annehmen, daß irgend Jemand ſonſt im Schloß es der Mühe werth hält, meinen Geheimniſſen nachzuſpüren. Nun war es meine Abſicht, zu fragen, was Du mir in dieſer Sache zu thun räthſt.“
Die Baronin hatte, während Helene ſprach, ſehr eifrig genäht. Jetzt blickte ſie wieder auf und ſagte:
„An wen war der Brief!“
„An Mary Burton.“
„Haſt Du Dich in dem Briefe frei geäußert?“
„Wie man an eine Freundin eben ſchreibt.“
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„Es iſt dies!“ ſagte Helene. „Ich fand vorgeſtern
Abend in der Nähe der Kapelle einen Brief —“
Die Baronin hob ihr Haupt, und warf Helenen
einen Blick zu, in welchem Beſtürzung, Zorn, Furcht
und Trotz auf eine ſeltſame Weiſe gemiſcht war.
„Einen Brief,“ fuhr Helene fort, „den ich vor¬
geſtern Morgen geſchrieben und Luiſen zur Beſorgung
übergeben hatte. Der Brief war natürlich, als ich
ihn Luiſen gab, verſiegelt, als ich ihn wiederfand, war
er erbrochen. Ich kann nicht glauben, daß Luiſe, die
mir überdies zugethan ſcheint, ein ſolches Intereſſe an
meiner Correſpondenz nimmt, um ſich auf die Gefahr
hin, ihren Dienſt zu verlieren, eines ſolchen Verge¬
hens ſchuldig zu machen, muß alſo annehmen, daß
irgend Jemand ſonſt im Schloß es der Mühe werth
hält, meinen Geheimniſſen nachzuſpüren. Nun war
es meine Abſicht, zu fragen, was Du mir in dieſer
Sache zu thun räthſt.“
Die Baronin hatte, während Helene ſprach,
ſehr eifrig genäht. Jetzt blickte ſie wieder auf und
ſagte:
„An wen war der Brief!“
„An Mary Burton.“
„Haſt Du Dich in dem Briefe frei geäußert?“
„Wie man an eine Freundin eben ſchreibt.“
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/220>, abgerufen am 26.06.2024.
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