Er trat an das Klavier: "Soll ich Ihnen die Blätter umschlagen, Helene?"
"Danke!" antwortete Helene trocken; "ich spiele aus dem Kopf."
Nach einer kleinen Pause: "Bitte, Cousin, gehen Sie fort; es ängstigt mich, wenn Jemand so dicht hinter mir steht."
"Ich dächte, Doctor Stein hätte gestern eine halbe Stunde lang hinter Ihnen gestanden, ohne daß Sie irgend welche Angst verrathen hätten."
"So werde ich aufstehen;" sagte Helene, griff ein paar schnelle Schlußaccorde und ging, ohne das Ah! der mitten im besten Tanze Gestörten zu beachten, von dem Klavier fort.
"Das ist doch stark;" sagte Felix bei sich.
"Weshalb hörte denn Helene so plötzlich auf zu spielen?" fragte die Baronin, welche die Scene aus der Entfernung beobachtet hatte, herantretend.
"Ich weiß es nicht; sie wird mir wohl etwas übel genommen haben. Sie ist doch eigensinniger und launischer, als ich dachte. Meinen Sie nicht auch, Tante, daß der Mensch, der Stein, mit seinen cor¬ rupten Ansichten doch einen schädlichen Einfluß nicht bloß auf Bruno, sondern auch auf Helene ausübt?"
Er trat an das Klavier: „Soll ich Ihnen die Blätter umſchlagen, Helene?“
„Danke!“ antwortete Helene trocken; „ich ſpiele aus dem Kopf.“
Nach einer kleinen Pauſe: „Bitte, Couſin, gehen Sie fort; es ängſtigt mich, wenn Jemand ſo dicht hinter mir ſteht.“
„Ich dächte, Doctor Stein hätte geſtern eine halbe Stunde lang hinter Ihnen geſtanden, ohne daß Sie irgend welche Angſt verrathen hätten.“
„So werde ich aufſtehen;“ ſagte Helene, griff ein paar ſchnelle Schlußaccorde und ging, ohne das Ah! der mitten im beſten Tanze Geſtörten zu beachten, von dem Klavier fort.
„Das iſt doch ſtark;“ ſagte Felix bei ſich.
„Weshalb hörte denn Helene ſo plötzlich auf zu ſpielen?“ fragte die Baronin, welche die Scene aus der Entfernung beobachtet hatte, herantretend.
„Ich weiß es nicht; ſie wird mir wohl etwas übel genommen haben. Sie iſt doch eigenſinniger und launiſcher, als ich dachte. Meinen Sie nicht auch, Tante, daß der Menſch, der Stein, mit ſeinen cor¬ rupten Anſichten doch einen ſchädlichen Einfluß nicht bloß auf Bruno, ſondern auch auf Helene ausübt?“
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Er trat an das Klavier: „Soll ich Ihnen die
Blätter umſchlagen, Helene?“
„Danke!“ antwortete Helene trocken; „ich ſpiele
aus dem Kopf.“
Nach einer kleinen Pauſe: „Bitte, Couſin, gehen
Sie fort; es ängſtigt mich, wenn Jemand ſo dicht
hinter mir ſteht.“
„Ich dächte, Doctor Stein hätte geſtern eine halbe
Stunde lang hinter Ihnen geſtanden, ohne daß Sie
irgend welche Angſt verrathen hätten.“
„So werde ich aufſtehen;“ ſagte Helene, griff ein
paar ſchnelle Schlußaccorde und ging, ohne das Ah!
der mitten im beſten Tanze Geſtörten zu beachten,
von dem Klavier fort.
„Das iſt doch ſtark;“ ſagte Felix bei ſich.
„Weshalb hörte denn Helene ſo plötzlich auf zu
ſpielen?“ fragte die Baronin, welche die Scene aus
der Entfernung beobachtet hatte, herantretend.
„Ich weiß es nicht; ſie wird mir wohl etwas
übel genommen haben. Sie iſt doch eigenſinniger und
launiſcher, als ich dachte. Meinen Sie nicht auch,
Tante, daß der Menſch, der Stein, mit ſeinen cor¬
rupten Anſichten doch einen ſchädlichen Einfluß nicht
bloß auf Bruno, ſondern auch auf Helene ausübt?“
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/85>, abgerufen am 17.06.2024.
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