Sie schwieg nun stille, und wischte sich die Thränen von den Wangen, welche die Erinnerung ihres Unglücks den Augen reichlich entlockt hatte. Wie ich noch vor ihr stand, einige Worte des Trostes für sie suchte, und keine fand, läutete man im Dorfe die Mittagsglocke, sie horchte. Schon Mittag, sprach sie, dann muß ich nach Hause eilen, mein armes Kind wird hungern! Bei diesen Worten stand sie schnell auf, ließ ihre Holz-Bürde liegen, und gieng mit starken Schrit- ten nach dem Dorfe. Ich befahl meinem Kut- scher, im Wirthshause die Pferde zu füttern, und eilte ihr nach. Ich wollte, wo möglich, ihr Kind sehen und sprechen, ich fühlte im Voraus, daß es meinem Herzen äusserst weh thun würde, wenn ich ein junges, wahnsinniges Mädchen in der Gesellschaft einer eben so wahnsinnigen Mutter sprechen sollte, aber dies Mädchen schien mir die größte Ehrfurcht zu verdienen, weil es ganz ge- wiß aus Uebermaas der Empfindung, aus Schmerz über das unverdiente Unglück einer geliebten Mut- ter wahnsinnig wurde. Daß die letztere auch ih- ren Verstand verlohren hatte, wunderte mich jetzt nicht mehr, denn wer über solche Dinge den Verstand nicht verliert, der hat wohl keinen zu verlieren.
Ich
da er mir eine unendlich groͤßere ſchuldig iſt?
Sie ſchwieg nun ſtille, und wiſchte ſich die Thraͤnen von den Wangen, welche die Erinnerung ihres Ungluͤcks den Augen reichlich entlockt hatte. Wie ich noch vor ihr ſtand, einige Worte des Troſtes fuͤr ſie ſuchte, und keine fand, laͤutete man im Dorfe die Mittagsglocke, ſie horchte. Schon Mittag, ſprach ſie, dann muß ich nach Hauſe eilen, mein armes Kind wird hungern! Bei dieſen Worten ſtand ſie ſchnell auf, ließ ihre Holz-Buͤrde liegen, und gieng mit ſtarken Schrit- ten nach dem Dorfe. Ich befahl meinem Kut- ſcher, im Wirthshauſe die Pferde zu fuͤttern, und eilte ihr nach. Ich wollte, wo moͤglich, ihr Kind ſehen und ſprechen, ich fuͤhlte im Voraus, daß es meinem Herzen aͤuſſerſt weh thun wuͤrde, wenn ich ein junges, wahnſinniges Maͤdchen in der Geſellſchaft einer eben ſo wahnſinnigen Mutter ſprechen ſollte, aber dies Maͤdchen ſchien mir die groͤßte Ehrfurcht zu verdienen, weil es ganz ge- wiß aus Uebermaas der Empfindung, aus Schmerz uͤber das unverdiente Ungluͤck einer geliebten Mut- ter wahnſinnig wurde. Daß die letztere auch ih- ren Verſtand verlohren hatte, wunderte mich jetzt nicht mehr, denn wer uͤber ſolche Dinge den Verſtand nicht verliert, der hat wohl keinen zu verlieren.
Ich
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da er mir eine unendlich groͤßere ſchuldig
iſt?
Sie ſchwieg nun ſtille, und wiſchte ſich die
Thraͤnen von den Wangen, welche die Erinnerung
ihres Ungluͤcks den Augen reichlich entlockt hatte.
Wie ich noch vor ihr ſtand, einige Worte des
Troſtes fuͤr ſie ſuchte, und keine fand, laͤutete
man im Dorfe die Mittagsglocke, ſie horchte.
Schon Mittag, ſprach ſie, dann muß ich nach
Hauſe eilen, mein armes Kind wird hungern!
Bei dieſen Worten ſtand ſie ſchnell auf, ließ ihre
Holz-Buͤrde liegen, und gieng mit ſtarken Schrit-
ten nach dem Dorfe. Ich befahl meinem Kut-
ſcher, im Wirthshauſe die Pferde zu fuͤttern, und
eilte ihr nach. Ich wollte, wo moͤglich, ihr Kind
ſehen und ſprechen, ich fuͤhlte im Voraus, daß
es meinem Herzen aͤuſſerſt weh thun wuͤrde, wenn
ich ein junges, wahnſinniges Maͤdchen in der
Geſellſchaft einer eben ſo wahnſinnigen Mutter
ſprechen ſollte, aber dies Maͤdchen ſchien mir die
groͤßte Ehrfurcht zu verdienen, weil es ganz ge-
wiß aus Uebermaas der Empfindung, aus Schmerz
uͤber das unverdiente Ungluͤck einer geliebten Mut-
ter wahnſinnig wurde. Daß die letztere auch ih-
ren Verſtand verlohren hatte, wunderte mich jetzt
nicht mehr, denn wer uͤber ſolche Dinge den
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/214>, abgerufen am 19.02.2025.
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